Stefan Appelius


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Gegen den Strom: Hans Vogel (2)

Uni Potsdam > NS-Diktatur

Gegen den Strom (2)
Hans Vogel (1881 - 1945)

Fortsetzung von Teil 1

Ich ging am gleichen Abend (21 Uhr) mit Ernst zum Polizeirevier Friedrichshagen und erbat polizeilichen Schutz. Die Polizei bedauerte, nicht eingreifen zu können, die Besetzung des Hauses sei allerdings Hausfriedensbruch nach dem bürgerlichen Gesetzbuch, aber es sei eine Angelegenheit der Geheimen Staatspolizei, in die einzugreifen sie nicht berechtigt sei. Sie rieten mir, mich schriftlich an die Geheime Staatspolizei zu wenden.

Als wir gegen 21:30 Uhr nach Hause kamen, standen mehrere SA-Männer vor dem Gartentor in Gesellschaft von mehreren Frauen und Mädchen. Den SA-Leuten merkte man eine gewisse Erwartung und Ungeduld an – vielleicht hatten sie gehofft, ich werde nicht mehr in das Haus zurückkehren. Dann hätten sie wenigstens das Feld frei gehabt. Im Hause großes Gewimmel von SA und ihren Frauen, die unser Haus inspizierten. Lina erzählte mir, dass sie der SA die Stiefel putzen und für sie kochen musste. Sie weinte und sah schlecht aus. Ernst und ich gingen sofort, nachdem wir unseren Schlüssel verlangt hatten, in das Schlafzimmer unserer Eltern. Dann schlich ich mich in Willis Zimmer – den Schlüssel hatte man mir zufälligerweise mit den anderen gegeben –, öffnete die Schreibtischschublade und suchte nach seinen Papieren. Zum Glück waren sie noch da. Dann suchte ich in seinem schwarzen Rock, der in meinem Schrank hing, nach seinem Pass. Auch er war noch da. Ich legte mir die teuren Schätze unter das Kopfkissen und am nächsten Morgen steckte ich sie mir vorne ins Kleid. Ich war vielleicht gerade 50 Schritte vom Hause entfernt, als ein SA-Mann, laut meinen Namen rufend, mir nachgerannt kam und mir erklärte, er habe den Befehl, mich sofort in das Haus zurückzubringen. Mein erster Gedanke: Jetzt haben sie den ‚Diebstahl’ des Passes und der Papiere entdeckt. Ich beschloss, auf keinen Fall zurückzugehen und alles zu versuchen, den SA-Mann umzustimmen. Ich erklärte ihm, dass es mir unmöglich sei, zurückzugehen. ‚Im Amt warten Leute auf mich, die bestellt sind, ich darf sie nicht warten lassen, ich muss weiter.’ Er zuckte mit den Achseln. Ich fragte, weshalb ich zurückgehen sollte. Er zögerte. Dann erzählte er mir, ich hätte mich bei dem Wachhabenden nicht persönlich abgemeldet, nur bei ihm, der am Tor stand. Das genüge aber nicht. Ich bat den SA-Mann, mich bei dem Wachhabenden für dieses Versäumnis zu entschuldigen und ihm klar zu machen, dass ich mich jetzt persönlich nicht entschuldigen könnte, da meine Arbeit nicht warten könne. Das versprach mir der SA-Mann. Ich war gerettet und konnte ungehindert zur Arbeit. – Ein Glück übrigens, dass ich den Pass am Abend herausgenommen hatte. Am Morgen nämlich fehlte Willis schwarzer Rock. In der Nacht wütete ein heftiger Sturm mit starkem Regen. Die SA-Leute, die am Tor und im Garten Dienst hatten, brauchten einen Regenschutz. Sie wussten, dass im alten Schrank verschiedene Mäntel hingen. Nachts klopften sie an unser Schlafzimmer und baten mich, ihnen die Mäntel auszuhändigen. Ich tat es, doch am Morgen fehlten nicht nur die Mäntel, sondern auch ver-schiedene Hemden aus Willis Schubladen und außerdem sein schwarzer Rock aus meinem Schrank.

Nach Geschäftsschluss traf ich mich mit Willi, Ernst, Eberhard und Mariechen bei Tietz. Wir besprachen das Notwendigste und schickten einen Brief an die Eltern ab, in dem Willi sie über die Hausbesetzung informierte. Wir beschlossen, dass ich am Sonnabend zur Geheimen Staatspolizei gehen sollte, um dort die Freigabe des Hauses zu erlangen.

Am Abend ließ ich mich beim Sturmführer Scholz melden, als er zur Inspektion in das Haus kam. Er saß in Vaters Arbeitszimmer. Das Ebertbildnis war bereits entfernt worden. Über dem Schreibtisch hatte man eine große Hakenkreuzfahne angebracht und das Bildnis Hitlers aufgehangen.

Scholz empfing mich sehr höflich, bot mir einen Platz an und fragte nach meinen Wünschen oder eventuellen Beschwerden. Ich erzählte ihm, dass wir Donnerstagabend, als wir nach Hause kamen, Frauen und Mädchen im Haus trafen und dass ich der Meinung sei, dass sie nicht hineingehörten, da ich mir nicht denken könne, dass sie eine politische Aufgabe zu erfüllen hätten. Scholz war von dieser Mitteilung überrascht und versprach Abhilfe. Weiter erzählte ich ihm von der Behandlung Linas durch die SA und wies ihn darauf hin, dass bei Linas Herzen bei weiterem Kommandieren der SA für nichts zu garantieren sei und bat ihn, seinen Leuten zu verbieten, von Lina Dienste zu verlangen. Außerdem bat ich ihn darum, Lina in den nächsten Tagen nach Hause fahren zu lassen, damit sie zur Ruhe käme. Er meinte, Lina könne nach Hause fahren, wann immer sie wolle.

Außerdem bat ich darum, meine Zimmerschlüssel beim Weggehen nicht einem x-beliebigen SA-Mann übergeben zu müssen, der jederzeit in den Räumen herumsuchen könnte, sondern nur ihm. Da er nicht immer im Hause war, schlug er mir vor, die Schlüssel nur dem Wachhabenden auszuhändigen, der dann für sie verantwortlich sei und eine Durchsuchung nur auf seinen Befehl durchführen dürfte. Weiter erklärte ich ihm, dass ich mit meinem Gehalt nicht die Gas-, Wasser- und Lichtrechnungen bezahlen könnte, die durch eine Besatzung von acht bis zehn Mann entste-hen würden. Er versprach mir die Bezahlung durch die SA. Zuletzt noch verständigte ich ihn von meiner Absicht, am Sonnabend die Geheime Staatspolizei aufzusuchen und eine Beschleunigung der Angelegenheit zu erreichen. Ich bat ihn um eine schriftliche Bestätigung, dass ich mit seiner Einwilligung die Geheime Staatspolizei aufsuche. Er lehnte es ab, mir diesen Beleg zu geben, stellte es mir aber frei, zur Gestapo zu gehen. Er versprach sich davon keine Beschleunigung, weil die Unterlagen für eine endgültige Entscheidung noch nicht von ihnen herbeigeschafft werden konnten. Er seinerseits würde nach seinen Kräften dafür sorgen, dass die Sache so schnell als möglich erledigt würde. Nach Besprechung dieser ‚dienstlichen’ Angelegenheiten kamen wir in ein persönliches Gespräch, an dem sich auch Weihe, Scholzens Adjutant, beteiligte. Man malte mir die Schrecken des Bolschewismus in den schwärzesten Farben und verherrlichte die Tat des Nationalsozialismus, das deutsche Volk von diesem Schrecken bewahrt zu haben.

Als ich die Methoden des nationalsozialistischen Kampfes, sein autoritäres, diktatorisches System angriff, antwortete man mir mit Schlagwörtern, die mit Pathos, aber nicht mit überzeugender Bestimmtheit vorgebracht wurden. Wir kamen fast in einen heftigen Streit, in dessen Verlauf Scholz mir erklärte, er sei überzeugt, dass wenn wir uns auf einem anderen Planeten als Mensch begegnet wären, wir uns gut verstanden hätten, er schätze mich als Menschen, aber politisch sei er mein Gegner.

Er hätte seinen Leuten Befehl gegeben, mir höflich entgegenzutreten, und wenn ich in dieser Beziehung eine Klage hätte, sollte ich ihn sofort davon unterrichten. Solange er in diesem Haus etwas zu sagen hätte, dürfte ich seines Schutzes gewiss sein. Sollte er aber höheren Befehl erhalten, so würde er diesen Befehl ausführen, auch wenn er hart zupacken müsste.

Sonnabend, den 24. Juni 1933

Meine Absicht, zur Gestapo zu gehen, unterließ ich auf dringendes Zureden einer Geschäftskollegin und Genossin, die den Zeitraum vom 21. bis 24. Juni zu kurz für eine endgültige Entscheidung hielt. Sie fürchtete auch, dass man in dieser Verwirrung – in den letzten Tagen war eine große Anzahl Verhaftungen auch bei Zentrumsleuten und Deutschnationalen vorgenommen worden – mich kurzerhand in der Gestapo behalten würde und Ernst dann vollkommen allein sei.

In der Nacht vom 24. zum 25. Juni fand auf den Müggelbergen eine große Sonnwendfeier der Hitlerjugend und SA statt. Gegen 3 Uhr nachts herrschte auf der Seestraße und auf der Spree großes Getöse, denn da kehrten die Festteilnehmer von der Feier zurück.

Ich erwachte durch Gesang und in der Turmallee hörte ich eine Truppe marschieren. Am Hause angekommen, wurde von einer jungen schneidigen Stimme ‚Halt’ kommandiert und der Führer der Truppe hielt eine Ansprache an seine Leute, in der er zum Ausdruck brachte, dass die SA das Haus des sozialdemokratischen Bonzen Vogel erobert hätte, dass jetzt die Zeiten für die Bonzen vorbei seien und das Haus von der Hitlerjugend in Besitz genommen würde, der es fortan gehören sollte.

Es folgten weitere Verächtlichmachungen meines Vaters, in gehässigstem und überheblichstem Ton ausgestoßen. Offenbar wurde diese Rede gehalten, um mich, die man doch im Hause vermuten musste, aufs Tiefste zu beleidigen und zu verletzen.

Sonntag, den 25. Juni 1933

Am Mittag fuhr Lina mit ihrem Schwager Fürst, der bei einem Berlinbesuch Lina im besetzten Haus antraf, in ihre Heimat. Nachmittags trafen wir uns mit Mariechen und Eberhard. Als wir abends nach Hause kamen und uns in der Küche Abendbrot machten, erschien der Wachhabende. Derjenige, der mir am Morgen nach der Verhaftung die Schlüssel übergab, und eröffnete mir in einer ruhigen, fast väterlichen Weise, dass er an mich eine Gewissensfrage zu stellen habe, da man vermeiden wollte, mich im Beisein der jungen Burschen auszufragen. Er bat mich, die Frage wahrheitsgemäß zu beantworten, da sie die Wahrheit doch an den Tag bringen würden. Ich war gespannt auf diese Frage. Sie lautete: ‚Haben Sie in diesem Haus unterirdische Gänge?’

Ich war so sprachlos, dass ich nur ein ‚Nein’ herausbringen konnte. Der SA-Mann entfernte sich. Als er nach kurzer Zeit zurückkam, erzählte er mir, dass er eben mit Scholz telefoniert habe und ihn über den Eindruck, den seine Gewissensfrage auf mich gemacht habe, berichtet hätte. Er und der Sturmführer Scholz seien schon vorher der Überzeugung gewesen, dass solche Gänge in dem Hause nicht existierten. Man habe aber, bevor man an die fachmännische Untersuchung des Hauses gehen wollte, meine Antwort wissen wollen. Mit der Untersuchung sei er beauftragt worden, weil er der einzige Fachmann für Berlin sei. Der Apparat würde nächste Woche eintreffen, dann würde man mit der Untersuchung beginnen. Ich fragte, wie ein solcher Verdacht entstehen konnte. Er erzählte mir, dass ein uns ‚freundlich’ gesinnter Nachbar die Anzeige gemacht habe, dass sich in unserem Haus unterirdische Gänge befänden. ‚Wissen Sie’, sagte er, ‚Schweinehunde gibt es überall. Wenn einer Unglück hat, dann häufen Schadenfrohe noch mehr auf ihn.’ Dann erzählte er mir aus seinem Leben. Dass er einmal ganz links gestanden hätte, aber durch bittere Erfahrungen zur NSDAP gekommen sei. Er sei abstinent und arbeite in der Trinkerfürsorge. Er suche immer den Menschen im anderen und möchte aus der Politik die Gehässigkeit ausscheiden.

Sonntag, den 25. Juni 1933 bis 1. Juli 1933

Die ganze Woche hatte die Wache den gleichen Wachha-benden, den SA-Mann Stolzenfels. Ein widerlicher Mensch, gleißend, glatt, mit gönnerhaften Manieren. Er badete in unserem Badezimmer, während ich im Geschäft war. Er spielte, wo er konnte, den Herrn des Hauses. Er kam fast die ganzen acht Tage nicht aus den Kleidern, roch oft nach Bier. Ich ging morgens aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter, verabschiedete mich von Ernst und verließ das Haus. Das ärgerte ihn sehr, weil ihm das Ganze zu schnell ging, so äußerte er sich Ernst gegenüber. Abends, wenn Ernst und ich nach Hause kamen, verlangten wir unsere Schlüssel, machten uns einen schnellen Imbiss und gingen in unser Schlafzimmer, weil wir nichts mehr sehen wollten von den Nazis. Ernst ging nach der Schule zu Mariechen. Als er einmal mittags nach Hause kam, versuchte man ihn einzuschüchtern und stellte an ihn alle möglichen Fragen.

Da meine Aktentasche jeden Morgen kontrolliert wurde, konnte ich das Notwendigste an Kleidern und Wäsche nur dadurch aus dem Hause bringen, dass ich mir jeden Morgen zwei Garnituren anzog und darüber meinen Gummimantel.

Die Nächte waren nicht immer ruhig. Man hörte die SA um das Haus laufen, die Wache am Haustor wechseln, Motorräder ankommen usw. Auf unserer Schreibmaschine wurde oft geschrieben – anscheinend Berichte über Beobachtungen im Hause, über die Zeiten des Eintreffens und Verlassens unseres Hauses. Als ich am Dienstagabend nach Hause kam, teilte mir der Wachhabende mit, dass die Polizei Friedrichshagen nach mir gefragt hätte und dass ich mich am nächsten Tag im Polizeirevier zu melden hätte. Als ich am Mittwoch Abend dort erschien, war bereits geschlossen, aber ich hinterließ Bescheid, dass ich dort gewesen war. Am Donnerstag Abend teilte mir der Wachhabende mit, dass die Polizei ein zweites Mal hier gewesen sei und energisch mein Erscheinen gefordert habe. Ich war aber am gleichen Tag auf dem Polizeirevier gewesen.

Man verlangte dort von mir den Aufenthaltsort meines Vaters und seine Abmeldung. Ich erklärte, nichts Bestimmtes über Vaters Aufenthalt zu wissen, nur das, was in der Zeitung stehe. Danach sollte er sich angeblich in Prag aufhalten. Ich weigerte mich, Vater und Mutter abzumelden, da ich dazu von ihnen keinen Auftrag hatte, und fragte, weshalb man die Abmeldung verlange.

Der Polizeiwachtmeister erzählte mir, dass die Nazis bei ihm gewesen seien und gemeldet hätten, dass mein Vater und meine Mutter geflüchtet seien. Sie wollten seinen jetzigen Aufenthalt wissen und verlangten von der Polizei, dass sie versuchen sollte, ihn durch mich zu erfahren, bzw. dass ich die Abmeldung meines Vaters vornehmen sollte. Der Zweck dieser ganzen Aktion war auch dem Wachtmeister nicht klar geworden, aber er musste die Meldung über die Abreise meines Vaters dienstlich weiter verfolgen.

Als ich am Freitag Abend nach Hause kam, machte der Wachhabende Stolzenfels mir regelrechte Vorwürfe, dass ich noch immer nicht zur Polizei gegangen sei, trotz zweimaliger Mahnung. Heute sei die Polizei zum dritten Mal erschienen. Stolzenfels tat immer so, als wüsste er nicht, um welche Angelegenheit es sich handelte. Ich hütete mich aber, ihm Näheres zu erzählen. Wenn ich nicht freiwillig erschiene, müsste man mich zwangsweise vorführen, sagte Stolzenfels. Darauf erwiderte ich ihm, dass die Angelegenheit bereits gestern erledigt worden sei und dass mir das nochmalige Erscheinen der Polizei unerklärlich sei.

Aber ein neues Problem harrte seiner Lösung. Ernst bekam am 1. Juli Ferien. An diesem Tag sollte Willi ihn über die Grenze zu den Eltern bringen, denn es war unmöglich, den Jungen den ganzen Tag unter der SA-Besatzung des Hauses allein zu lassen.

Ich wollte ausharren, solange ich Arbeit hatte, denn ich wollte unser Eigentum nicht kampflos den Nazis überlassen, das sie ohne jedes Recht an sich gerissen hatten. Die Schwierigkeit bestand darin, Ernst auf legalem Wege aus dem Haus zu bringen, das heißt mit seinen Sachen, unter Einwilligung der Nazis. Wie leicht konnten sie auf Grund des gefundenen Briefes Verdacht schöpfen, dass wir ihn zu unseren Eltern nach Prag bringen wollten!

Das hatte ich doch bei der Verhaftung energisch abgestrit-ten sowie jede Verbindung mit Prag. Deshalb hatten wir (Willi, Eberhard, Mariechen und ich) Folgendes uns ausgedacht: Mariechens Mutter schickt Ernst eine Einladung aus Kiel. Diese Einladung werden die Nazis zu lesen bekommen, da sie ja alle Posteingänge kontrollierten. Die Karte wurde in Kiel abgeschickt, doch warteten wir bis Donnerstag vergeblich auf ihr Erscheinen. Am Abend erzählte mir Ernst, dass er den Postboten gefragt hätte, ob er keine Karte aus Kiel für ihn hätte. Der Postbote erzählte ihm, dass er vor zwei Tagen eine Kieler Karte dem Nazi am Gartentor übergeben wollte, dieser aber die Karte nicht annahm, mit der Begründung, dass hier Vogels nicht mehr wohnten. Diese Karte habe er in Friedrichshagen wieder abgeliefert. Am nächsten Morgen erkundigte ich mich auf der Post in Friedrichshagen nach dieser Karte. Leider konnte man sie nicht finden.

Am Abend ließ ich mich bei Sturmführer Scholz melden. Ich hatte die Absicht, einige Angelegenheiten mit ihm zu besprechen und im Laufe des Gesprächs ganz unauffällig zu erwähnen, dass ich Ernst am nächsten Morgen nach Kiel zu Verwandten bringen wollte. Als ich im Zimmer eintrat, aß er gerade eine Stulle und trank Kaffee. Er entschuldigte sich, dass er während unserer Besprechung esse bzw. trinke, aber er sei bis auf die Haut durchnässt und ausgehungert. Er kam von der Gedenkfeier für die in Köpenick erschossenen SA-Männer. Ich verständigte ihn, dass ich Telefon und Radio abbestellen würde, weil ich die Kosten von nun ab nicht bestreiten könnte. Ich teilte ihm mit, dass die Hemden, die in der Nacht vom 22. zum 23. Juni aus meines Bruders Schubladen entwendet wurden, sowie sein Rock und die geliehenen Mäntel noch nicht zurückgegeben worden seien. Darauf Weihe: ‚Ich verbitte mir, dass Sie uns für Diebe halten.’

Ich hatte nichts von Dieben gesagt, wollte nur die Angelegenheit in ihrem eigenen Interesse in Ordnung gebracht haben. Scholz beruhigte Weihe und versprach mir, dass mir Weihe eine Quittung über die entliehenen Gegenstände ausstellen würde. Ich unterrichtete ihn, dass Stolzenfels während meiner Abwesenheit öfters gebadet habe und dass aus diesem Grund das Bad von mir nicht mehr benützt werden könnte, dass ich aber nicht wünsche, dass er Stolzenfels das Baden untersage. Weihe brauste auf, als ich das sagte, aber Scholz verstand meinen Standpunkt, meinte aber, dass es besser sei, die Sache totzuschweigen, weil man mich eventuell zu schikanieren versuchen werde, sobald Stolzenfels erfahren werde, dass ich ihm die Sache gemeldet habe. Dann erkundigte ich mich nach dem Stand der Hausangelegenheit. Ganz zum Schluss sprach ich den Wunsch aus, Ernst am nächsten Morgen zum Zug nach Kiel bringen zu dürfen, und erbat sein Einverständnis. Er antwortete mir, dass hierzu der Inspektionsführer in Friedrichshagen seine Einwilligung geben müsse und dass einige Tage darüber vergehen würden.

Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, dass Ernst bereits am nächsten Morgen aus dem Haus gebracht werden müsse. Er werde in Kiel erwartet und es sei ganz unmöglich, den Jungen den ganzen Tag allein im Hause bei der Besatzung zu lassen, während ich in der Stadt arbeitete. Er sah das ein, überlegte einige Minuten und fragte ganz unvermittelt: ‚Wie ist der Name und die Adresse Ihrer Verwandten in Kiel?’ Ich antwortete rasch: ‚Grete Binoch, Kiel, Prinz-Heinrich-Straße 86.’

Er befahl seinem Adjutanten Weihe genau Name und Adresse zu notieren. Dann ging er ans Telefon und suchte Verbindung mit dem Inspektionsführer in Friedrichshagen. Er trug ihm mein Anliegen vor und fügte hinzu, dass sie genauen Namen und Adresse meiner Verwandten in Kiel hätten. Der Inspektionsführer gab daraufhin seine Einwilligung. Ich bat darum, dass Scholz den Wachhabenden verständigte, dass am nächsten Morgen Ernst mit seinem Gepäck das Haus verlassen würde. Scholz meinte, das würde ohne weiteres nach Kontrolle des Gepäcks geschehen können. Ich badete Ernst, der vor Müdigkeit fast im Bad einschlief. Wie hatte er um sein Schicksal gebangt, während der Unterredung mit dem Sturmführer. Dann packte ich seine Sachen in einen Rucksack und einen Koffer, in den ich Willis Wanderhose, seine Schuhe und seinen Kocher auf gut Glück hineinschmuggelte.

Samstag, 1. Juli 1933

Um 6 Uhr verließen wir das Haus und trafen Willi am Bahnhof in Berlin-Niederschöneweide. Schweren Herzens ließ ich die beiden ziehen. Würde der Übergang über die Grenze gelingen? Würde Willi gut zurückkommen?

Als ich ins Geschäft kam, machte man mir die Mitteilung, dass ich sofort entlassen sei. Grund: Staatsfeindlichkeit, langjährige SPD-Mitgliedschaft.

Ich gab meiner Kollegin, die ahnungslos mein Arbeitsgebiet zu übernehmen hatte, noch die notwendigsten Ratschläge, dann ging ich zur Personalstelle des Arbeitsamtes Mitte, um dort meine Papiere abzuholen. Dort ersuchte ich auch um eine persönliche Rücksprache mit dem Personalreferenten Meyer. Er bedauerte mein Ausscheiden aus der Reichsanstalt, erzählte, dass er die Verlängerung meines Arbeitsvertrages für den Monat Juli bereits unterzeichnet habe, da er noch einige Zeit bis zur Entscheidung über meine endgültige Anstellung verstreichen lassen wolle. Auf höhere Weisung habe er die unterzeichnete Verlängerung rückgängig machen müssen.

Man hätte ihm Vorwürfe gemacht, dass er mich, das langjährige SPD-Mitglied, nicht schon längst aus dem Amte entfernt hätte. Er hätte gestern viele Entlassungen unterzeichnen müssen und sei sich wie ein Henker vorgekommen.

Ich hielt ihm entgegen, dass ich wissenschaftliche Arbeit geleistet hätte, bei der nationale Zuverlässigkeit keine Rolle spielen könne. Halb gab er es zu, musste aber die offizielle Meinung vertreten, dass überall nationale Zuverlässigkeit verlangt werden müsse. Er selbst wolle alles tun, mir den Weg zu einem neuen Arbeitsplatz zu ebnen. Als Grund der Entlassung in meiner Arbeitsbescheinigung schrieb er nicht ‚Staatsfeindlichkeit’, sondern ‚Beendigung der Aushilfe’. Er erbot sich auch, mir ein persönlicher gehaltenes Zeugnis auszustellen, da das behördliche Zeugnis zu wenig enthalten würde. Ich sollte ihm den Entwurf des Zeugnisses bringen. Einige Tage später erhielt ich von ihm ein persönliches Zeugnis, trotz des Widerstandes eines SA-Beamten.

Sonntag, den 2. Juli 1933

Mit Engels auf Fahrt. Am Abend, als ich in der Küche war, kam der Scharführer, der Abstinenzler herein. Meist verschwanden die SA-Leute aus der Küche, wenn ich erschien, und gingen hinunter in den Keller. Der Scharführer hatte Sonntagnachmittag Stolzenfels, der fast acht Tage als Wachhabender im Hause war, abgelöst. Der Scharführer fragte mich, ob ich den Leuten ein weißes Tischtuch gegeben hätte, da sie zurzeit ein solches benützten. Ich verneinte, guckte in die Küchenschublade – das Tischtuch fehlte. Er fragte mich weiter, ob unser Radioapparat einen Akku besessen habe. Er habe seinen eigenen hergegeben, weil er fehlte. Ich sagte ihm, dass unser Radio mit einem Akku versehen gewesen sei, also hatte man den Akku gestohlen. Dann fragte er mich, ob ich aus dem Nähkästchen die Schere entfernt hätte, da er sie heute Morgen bei einer Kontrolle vermisst habe. Ich hatte sie nicht herausgenommen.

Dieser Scharführer hatte nämlich die erste Wache nach der Besetzung des Hauses zu übernehmen. Damals kontrollierte er genau die Einrichtung des Hauses und schien sich die Dinge sehr genau gemerkt zu haben, da er sogar das Fehlen der Knopflochschere bemerkte. Er war über die Wegnahme des Tischtuches, des Akkus und der Knopflochschere sehr entrüstet, hielt solche Handlungsweisen unvereinbar mit der Ehre eines SA-Mannes, wollte gleich eine Anzeige an seine Vorgesetzten machen, damit der Schuldige bestraft werde und er daran gehindert werde, in Zukunft sich noch einmal an unserem Eigentum zu vergreifen.

Er wetterte dagegen, dass acht Tage lang ein und derselbe SA-Mann Wachhabender gewesen sei, obgleich es sehr schwer sei, Wachhabende zu finden, da es bei der jungen Mannschaft ältere, gesetzte SA-Männer sein mussten, diese aber meist in Arbeit standen.

Dann fragte er mich, ob ich Klagen über die Leute habe, mir stünde jederzeit das Recht der Beschwerde zu. Ich beklagte mich über die Verächtlichmachung meines Vaters in der in der Nacht vom 24. zum 25. Juni vor unserm Haus gehaltenen Ansprache eines Nationalsozialisten. Darauf entgegnete er, dass er gegen das, was gegen meinen Vater, als Politiker, gesagt werde, nicht einschreiten könne. Ich wandte dagegen ein, dass die Rede offensichtlich in der Absicht gehalten wurde, mich zu verletzen, denn mein Vater sei nicht im Hause gewesen, aber mich habe man darin vermuten müssen. Der Wachhabende versprach mir, die Angelegenheit Scholz zu melden. Dann beklagte ich mich, dass ich die geliehenen Mäntel und die entnommenen Hemden noch immer nicht zurückerhalten hätte. Daraufhin führte er mich in den Keller und übergab mir Willis blauen Mantel und seinen Lodenmantel. Der Schupomantel war aber nicht mehr zu finden.

Montag, den 3. Juli 1933

Ich war arbeitslos. ‚Zuhause’ wollte ich nicht bleiben, denn den Nazis wollte ich nicht zu dieser Schadenfreude verhelfen. Nur dem anständigen Wachhabenden, der sich wirklich immer ganz korrekt verhalten hatte, sagte ich am Morgen, dass ich arbeitslos geworden war, bat ihn aber, seinen Kameraden und auch Scholz davon nichts zu erzählen.

Der Wachhabende war über meine Mitteilung wirklich er-schrocken, klopfte mir tröstend auf die Schulter und meinte: ‚Dass Sie das auch noch treffen muss, ist doch zu schwer! Was werden Sie jetzt machen?’

Ich ging am Morgen zum Arbeitsamt Friedrichshagen, weil ich dort einen Antrag auf Arbeitslosenunterstützung stellen wollte. Der Beamte erklärte mir, dass ich keinen Anspruch auf Alu habe, da ich zu kurz gearbeitet habe, nur acht Monate, gesetzlich seien zwei Jahre erforderlich. Darauf ging ich zur Post und bestellte Radio und Telefon ab.

Abends war ich bei Lenz (17) eingeladen. Er hielt es für ausgeschlossen, dass ich durch weiteres Verbleiben in dem besetzten Haus die Freigabe unserer Einrichtung erzwingen würde. Aus früheren Erfahrungen wisse man, dass das Vermögen von ‚Staatsfeinden’ rücksichtslos eingezogen worden sei. Das Einzige, was ihm zu erreichen möglich schien, war die Freigabe meiner persönlichen Möbel auf Grund einer Rücksprache mit Scholz, der dann allerdings die Erlaubnis auf eigene Faust erteilen müsste. Im Übrigen hielt er es für zu gewagt für mich, noch weiter im Hause wohnen zu bleiben, da jeden Augenblick die getarnte Ferienreise Ernsts nach Kiel entdeckt werden könne und in diesem Fall man mich sicher ins Konzentrationslager bringen werde.

Dienstag, den 4. Juli 1933

Als ich am Morgen später als sonst vom Schlafzimmer herunterkam, fragte mich der Wachhabende sofort, ob ich heute Nacht geschlafen habe. Mitten in der Nacht sei ein heftiger Schlag erfolgt. Man habe im ganzen Haus herumgesucht, aber die Ursache nicht entdecken können. Sie hätten mich aber nicht wecken wollen. Als ich am Morgen nicht zu meiner gewohnten Zeit herunterkam, fürchteten sie, es sei mir während der Nacht etwas zugestoßen und das Gepolter rühre davon her. Ich aber hatte von dem Gepolter nichts gemerkt und als ich dem Wachhabenden dies erzählte, sah er etwas ungläubig drein. Ich musste dann den Schlüssel für unser Wohnzimmer verlangen. Seit zehn Tagen ging ich das erste Mal wieder hinein. Als ich die Türe aufmachte, lag am Boden, zerbrochen das große schwere Bild, das Onkel Michel (18) Vater zum 50. Geburtstag geschenkt hat. Dieses Bild war in der Nacht vom Nagel gefallen und hatte das geheimnisvolle Gepolter verursacht, das den Nazis scheinbar sehr viel zu denken und raten aufgab.

Ich traf bei einer Besorgung in Friedrichshagen den Genossen Weck. Er fragte sofort nach Ernst. Ich antwortete ihm, er sei in Kiel bei Verwandten zu Besuch. Er sah mich zweifelnd an und sagte: ‚Ich dachte, er sei in Prag bei den Eltern.’

Ich versicherte ihm nochmals, dass Ernst in Kiel sei. Darauf meinte er: ‚Es freut mich, dass Sie so verschwiegen sind. Aber ich weiß bestimmt, dass Willi Ernst am Sonnabend über die Grenze gebracht hat. Das erzählt man sich in Friedrichshagen. Der Junge von Klott hat es anderen Kin-derfreundekindern auch erzählt, dass er wisse, dass Ernst schon in Prag bei seinen Eltern sei.’

Wie war das möglich? Niemand hatten wir davon erzählt.

Weck fürchtete, dass die SA sehr schnell erfahren würde, dass Ernst nicht in Kiel, sondern in Prag sei, nachdem man in Friedrichshagen schon davon sprach. Er riet mir drin-gend ab, noch weiter im Hause zu bleiben, da jeden Augenblick meine ‚Vorspiegelung falscher Tatsachen’ entdeckt werden könne und in diesem Fall mir das Konzentrationslager sicher sei.

Ich fuhr dann zum Arbeitsnachweis, um mich dort zu melden. Vier Stunden musste ich warten, bis ich an die Reihe kam. Während dieser Zeit fand eine Durchsuchung des ganzen Arbeitsamtes durch ein großes Aufgebot von Polizei statt. Ich musste Handtasche und Aktentasche vorzeigen, die nach kleinen Zetteln durchsucht wurden. Es waren nämlich von Kommunisten Zigarettenbilder an die Türe geklebt worden, die auf der Rückseite einen Gummistempel trugen mit den Worten: ‚Die KPD lebt doch.’ Diese Zigarettenbilderverteiler suchte man.

Als ich am Abend zu Engels kam, traf ich Willi bereits dort, der heil von seiner Mission zurückgekehrt war. Ich teilte ihm mit, was ich von Weck erfahren hatte.

Unter diesen Umständen erschien Willi mein weiteres Verbleiben im Hause als Spiel mit dem Schicksal und wir beschlossen, dass er mich Freitag über die Grenze bringen wollte, denn ich brauchte noch ein paar Tage, um mich für die Reise vorzubereiten, wollte die schmutzige Wäsche aus dem Haus geben und noch einige Kleidungsstücke herausschmuggeln. Es war ein Risiko, noch ein paar Tage auszuharren, aber wir versuchten unser Glück.

Mittwoch, den 5. Juli 1933 und Donnerstag, den 6. Juli 1933

Ich zog die Bettwäsche ab. Nur mein Bett ließ ich bezogen, um keinen Verdacht zu erregen. Ich ließ die schmutzige Wäsche zur Wäscherei bringen. Ich sichtete nochmals meine Briefsachen und Mutters Schatulle, verbrannte heimlich in der Nacht, was mir gefährlich erschien. Am Donnerstag besuchte ich Fräulein Haas. Sie bat mich, sofort abzureisen, keine Stunde länger in Berlin zu bleiben. Sie schalt mich, weil ich um der Sachen willen meine Freiheit aufs Spiel setzte. Doch trotz aller Bitten, ich entschloss mich noch einmal in das Haus zurückzukehren, für die letzte Nacht. Diese letzte Nacht war seltsam unruhig. Die ganze Nacht fuhren Motorräder vor das Haus. SA-Leute hörte ich eilig um das Haus herumrennen, die Schreibmaschine klapperte. Natürlich sah ich auf das alles im Zusammenhang mit der Entdeckung und bereitete mich innerlich darauf vor, am Morgen beim Aufstehen als verhaftet erklärt zu werden.

Freitag, den 7. Juli 1933

Um 8 Uhr verließ ich endgültig das Haus. In der Aktentasche zeigte ich zur Kontrolle meine Badesachen vor und meine Handtasche. Mein letztes Geld hatte ich mir auf den Leib gebunden.

Den Wachhabenden, bei dem ich mich abzumelden hatte und dem ich meine Schlüssel übergab, verständigte ich, dass ich am Abend später als sonst nach Hause kommen werde, da ich bei einer Geburtstagsfeier eingeladen sei. Er entließ mich. Am Anhalter Bahnhof erwartete mich Willi mit dem Rucksack, in dem das Notwendigste verpackt war.

Wir fuhren bis Bad Schandau, stiegen dort aus dem D-Zug, ließen uns auf unsere Pässe einen Grenzschein ausstellen, fuhren mit dem Personenzug bis Bodenbach. Dort wurden wir auf Geld und Pass von den Deutschen, auf unseren Rucksack von den Tschechen kontrolliert. In Bodenbach hatten wir einige Stunden Aufenthalt. Willi brachte mich zum D-Zug nach Prag und fuhr dann wieder nach Berlin zurück. Am Abend wurde, das hatten wir mit Eberhard vereinbart, bei der SA-Wache angerufen, dass ich bei der Geburtstags-feier einen Nervenzusammenbruch bekommen habe und die Nacht nicht nach Hause zurück könnte, aber am nächs-ten Tag zurückzukommen hoffte. Am nächsten Tag rief Eberhard wieder an und verständigte die SA, dass man mich in ein Sanatorium hätte bringen müssen und dass ich darum gebeten habe, die Hausangelegenheit in Ordnung weiterzuführen. In beiden Fällen wollte die SA wissen, wer am Telefon sei und in welches Sanatorium man mich gebracht hätte. Doch Eberhard antwortete immer, dass das nichts zur Sache täte.

Nachbemerkung von Frieda Vogel

Ich habe in diesem Bericht nur Tatsachen gegeben und es unterlassen, außer den Handlungen noch mehr zu beschreiben, das heißt, die gefühlsmäßige Wirkung der mannigfachen Ereignisse auf mich, Willi und Ernst. Der Sinn dieses Berichtes soll nur der sein, den äußeren Verlauf dieser ereignisreichen Zeit festzuhalten, damit sie nicht im Laufe der Zeit ihre Deutlichkeit verlieren können. Das persönliche Erlebnis wird unvergessen bleiben und braucht nicht schriftlich festgehalten zu werden.

Nicht gut gelungen ist die Charakterisierung der SA-Besatzung. Ich habe sie – ein seltenes Glück – von ihrer menschlichsten Seite kennengelernt. Zu diesem Glück gratulierte mir Sturmführer Scholz bei seinem ersten Zusammentreffen mit ihm, indem er sagte: ‚Sie können von Glück sagen, Fräulein Vogel, dass unser Sturm die Haussuchung und Besetzung ihres Hauses vornahm. Hätten sie den Köpenicker Sturm bekommen, dann hätte ich keine Garantie für Ihre Person und Ihr Haus übernehmen mögen. Sie könnten heute im Spital oder sonst wo liegen und Ihr Haus könnte zerschlagen sein.’

Dieses Glück hatte ich zwar, aber es stand auf sehr unsicherem Boden, denn jeden Augenblick konnte der ‚höhere Befehl’ kommen, der den anständigen Hirschgartner Sturm in die Ecke fegte, um einem schneidigeren SA-Sturm Platz zu machen. Was dann?

Nur eines gab es: Alles zu wagen, mit allen Möglichkeiten zu rechnen und im Ernstfalle kaltes Blut zu bewahren und sich nicht verblüffen lassen. Man könnte sagen: Warum bist du noch weiter im Hause geblieben, nachdem du wusstest, dass man alle Augenblicke deine Lüge entdecken konnte und dir dann das Konzentrationslager bevorstand? Ich möchte darauf antworten: Solange es sich darum handelte, den Namen des Briefüberbringers nicht zu nennen, oder wichtige Papiere aus dem Haus zu holen, Ernst in Sicherheit zu bringen, wagte ich den Einsatz.

In dem Augenblick, als ich dies erreicht hatte und um der Möbel willen meine Freiheit aufs Spiel setzen, meine Eltern in Sorgen stürzen sollte, hatte ich nicht mehr die Kraft, noch länger auszuharren, da es sich um Möbel und nicht um Menschenleben handelte. Und ich glaube recht gehandelt zu haben.“ (19)

Mit dem Gesicht nach Deutschland

Schon bald muss Hans Vogel erkennen, dass die Herrschaft der Nationalsozialisten keineswegs nur eine kurze Episode bleiben wird, wie er zunächst gehofft hat. Jahr um Jahr schwindet die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat. Die Nazis haben ihn 1934 ausgebürgert, sein Eigentum nun auch offiziell konfisziert. Im Frühjahr 1938 wird das Büro des Exilparteivorstands der SPD aus Prag nach Paris verlegt. Inzwischen sind die finanziellen Mittel, die man 1933 noch auf Auslandskonten überweisen konnte, weitgehend verbraucht. Die propagandistischen Aktivitäten gegen das NS-Regime leiden indes nicht nur unter dem Geldmangel, sondern auch, weil weder die tschechische noch die französische Regierung die Nazis allzu offen provozieren möchte. Willi und Frieda Vogel leben inzwischen in Stockholm. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschlägt es Hans Vogel und seine Frau auf der Flucht vor den deutschen Truppen nach Südfrankreich. Auch hier können sie nicht bleiben.

Hans Vogel steht ganz oben auf den Fahndungslisten der Gestapo, schließlich ist er seit dem Tod von Otto Wels der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei. Auf abenteuerlichen Wegen wird das Ehepaar durch Spanien nach Portugal geschleust und gelangt schließlich an Bord eines Dampfers Ende 1940 mit einem alliierten Geleitzug nach Großbritannien.

Die Labour Party hat ihnen dabei geholfen, die notwendigen Papiere zu beschaffen. Es ist eine bewusste Entscheidung des Franken. Von London aus, mit dem Gesicht nach Deutschland, soll die Auseinandersetzung mit den Nazis fortgesetzt werden. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, in die Vereinigten Staaten zu gehen. Das wäre jedoch zu weit entfernt vom Kriegsgeschehen, meint Vogel. Jetzt ist seine Familie gänzlich zerrissen, denn Ernst, mittlerweile 19 Jahre alt, entschließt sich zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten. Hans und Dina Vogel beziehen eine kleine Wohnung im Norden von London, im Stadtteil Mill Hill. Sie beziehen eine kleine finanzielle Unterstützung der Labour Party, die ihnen ein bescheidenes Leben erlaubt. Viel Raum zur politischen Aktivität hat er allerdings nicht, zumal ihm das Erlernen der englischen Sprache nicht sehr leicht fällt.

Im Sommer 1945 möchte Hans Vogel so rasch wie möglich zurück in die Heimat und zwar nicht zuletzt aus privaten Gründen. Er sehnt sich nach einer Botschaft von seinem Bruder Michael. Der von den Amerikanern neu ernannte Bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner möchte ihn und seinen Sohn Willi so rasch wie möglich zurück nach Bayern holen.
Doch Hans Vogels Magenprobleme wollen nicht besser werden. Schließlich wird er in ein Krankenhaus eingewiesen. Noch immer ahnt er nicht, wie schlimm es um ihn steht. Wenn alles gut verlaufe, sagt ihm sein Arzt, könne er noch dreißig Jahre leben. Am 3. Oktober 1945 wird operiert. Anfangs sieht alles gut aus. Doch am Vormittag des 6. Oktober, etwa zur gleichen Stunde, während im Kloster Wennigsen bei Hannover die erste Reichskonferenz der SPD nach dem Untergang des Nazi-Regimes eröffnet wird, verschlechtert sich sein Zustand rasant. Hans Vogel ist an einer Lungenentzündung erkrankt. Als seine telefonisch alarmierte Frau Dina in Begleitung von Martha Ollenhauer in seinem Krankenzimmer eintrifft, ist Hans Vogel bereits verstorben.

Fußnoten

1 Brief Victor Gollancz v. 09. 10.1945 an Wilhelm Sander, AdA.

2 Brief Hans Vogel v. 09. 09.1945 an Ernst Vogel, AdA.

3 Ebd.

4 Martin Treu (1871–1952), SPD-Funktionär und ehemaliger 2. Bürgermeister der Stadt Nürnberg, wurde im Sommer 1945 von den Amerikanern als Oberbürgermeister von Nürnberg eingesetzt, nach Konflikten mit der Militärregierung und der SPD jedoch bereits im Dezember 1945 wieder aus dem Amt entfernt.

5 Vermutlich ist eine Großveranstaltung auf dem Nürnberger Marktplatz am 12. Februar 1933 gemeint.

6 Brief Hans Vogel (wie Anm. 2).

7 Brief Hans Vogel v. 06. 09.1945 an Otto Grotewohl, AdA.

8 Ebd.

9 Hans Böckler (1875–1951) absolvierte eine Lehre als Gold- und Silberschläger. Er wurde 1894 in Fürth Mitglied der SPD und des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV). Böckler stieg innerhalb der Gewerkschaft rasch auf und wurde 1928 als Abgeordneter der Kölner SPD in den Reichstag gewählt, dem er bis 1933 angehörte. Nach 1945 engagierte er sich beim Aufbau des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), dessen Vorsitz er von 1949 bis zu seinem Tod inne hatte.

10 Willi Vogel, Meine Eltern – Wir Kinder, Ms 1985, S. 3, in: AdA.

11 Adolf Braun (1862–1929) wurde in der Steiermark geboren. Nach dem Studium in Freiburg und Basel promovierte Braun 1886 zum Doktor der Philosophie. Anschließend war er zunächst als Redakteur der „Gleichheit“ in Wien, bevor er zur „Sächsischen Arbeiterzeitung“ nach Dresden und von dort als Redakteur zum „Vorwärts“ nach Berlin wechselte. Nachdem er 1898 aus Preußen ausgewiesen wurde, ging Braun nach Nürnberg, wo er die Leitung der „Fränkischen Tagespost“ übernahm. 1920 bis 1927 Mitglied im SPD-Parteivorstand, gehörte Braun dem Reichstag bis 1928 als SPD-Abgeordneter an.

12 Heute: Wißlerstr. 4, 12587 Berlin.

13 Willi Vogel, der ältere Bruder von Frieda Vogel.

14 Ernst Vogel (1921–1996), der jüngere Bruder von Frieda Vogel.

15 Wie Anm. 13.

16 Johannes Stelling (1877–1933) war schon als junger Mann Mitglied der SPD geworden. Nach 1918 amtierte der langjährige SPD-Landtagsabgeordnete kurzzeitig als Innenminister im Freistaat Mecklenburg-Schwerin. Er war Mitglied der Nationalversammlung und amtierte von 1920 bis 1933 als SPD-Reichstagsabgeordneter. Stelling wurde am 21. Juni 1933 in seiner Wohnung in Berlin-Köpenick von der SA festgenommen. Man fand seine verstümmelte Leiche einige Tage später nahe der Grünauer Fähre in einen Sack eingenäht.

17 Handschriftliche Anmerkung: „Gute Freunde meines Vaters, die sich als ‚Demokratische Staatsparteiler‘ bekannten“.

18 „Onkel Michel“ ist Hans Vogels älterer Bruder Michael Vogel (1872-1950), der nach der Befreiung von Erlangen im Frühjahr 1945 von den Amerikanern für einige Tage wegen der Einquartierung von vier Offizieren aus seinem Haus geworfen und in einem Lager interniert wurde, bevor die Amerikaner den Irrtum bemerkten und Michael Vogel rehabilitierten.

19 Frieda Vogel emigrierte mit ihren Geschwistern in die Tschechoslowakei. 1937 ging sie über Dänemark nach Schweden. Sie arbeitete als Haushaltshilfe bei verschiedenen Familien in Stockholm. 1938 sah sie ihren Vater das letzte Mal. Nach ihrer Rückkehr nach Westdeutschland im März 1947 amtierte sie zunächst als Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt in Nürnberg und anschließend von 1948–1969 als Leiterin des Stadtjugendamtes in Fürth: „Das war das erste Mal, dass eine Frau in leitender Stellung bei der Stadtverwaltung in Fürth berufen wurde, und bedeutete natürlich besonders für den Oberbürgermeister ein Experiment. Doch das Experiment gelang.“ Das Haus der Familie Vogel in der Berliner Turmallee wurde nach der Abreise der Kinder von SA-Leuten vollständig geplündert. Im Sommer 1934 waren nur noch einige Bücher, eine Lampe sowie „wertloses Inventar“ übrig. Frieda Vogel verstarb am 11. Juni 1991.

Dieser Beitrag wurde zuerst von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.

Hans Vogel in London

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