Stefan Appelius


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Der Kinderretter von La Guette

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Der Kinderretter von La Guette

Von Stefan Appelius

Aus dem Fenster der eleganten Wohnung im siebten Stockwerk schweift der Blick über die Dächer von Paris. Es lebt sich gut im 16. Arrondissement, unweit der Seine und des Eifelturms. Weit besser jedenfalls, als es Robert Jablon (87) vor mehr als 60 Jahren in der deutschen Hauptstadt hatte. Der Bankier Jablon, langjähriger Direktor in der renommierten Rothschild-Gruppe und bis heute hochangesehener Finanz- und Wirtschaftsfachmann, war nach der Machtergreifung der Nazis im Jahre 1933 eine der Schlüsselfiguren des antifaschistischen Widerstands in Berlin.

Von der Kollektivschuld der Deutschen hält Jablon (damals noch: Jablonski), der 1909 als Sohn jüdischer Eltern (sein Vater war preußischer Kaufmann) in Paris geboren wurde und während des Ersten Weltkriegs in Darmstadt zur Schule ging, nicht viel, obwohl seine Erfahrungen mit den Deutschen alles andere als erfreulich waren.

Nachdem Jablon 1931 sein erstes juristisches Staatsexamen abgelegt hatte, arbeitete der aktive Sozialdemokrat als Referendar an verschiedenen Berliner Gerichten. "Im Allgemeinen", sagt Jablon, "waren die deutschen Richter schon damals mehr oder weniger Nazis". Er war seit einigen Monaten Referendar am Berliner Landgericht, als der Publizist Carl von Ossietzky im Sommer 1932 angeklagt wurde, die Reichswehr beleidigt zu haben. Ossietzky hatte in der "Weltbühne" einen Artikel Kurt Tucholskys veröffentlicht, in dem es hieß, "Soldaten sind Mörder". Nachdem sich das Gericht nach mehrstündiger Verhandlung zur Beratung zurückzog, schlug die Stunde von Robert Jablon, denn Ossietzkys prominente Verteidiger hatten nur wenig überzeugend plädiert. "'Was werden wir tun?', fragte mich der Vorsitzende. 'Sie müssen ihn freisprechen', erwiderte ich, 'es handelt sich um eine Kollektivbeleidigung und dafür gibt es eine solide Rechtssprechung des Reichsgerichts.'" Der Landgerichtsrat, selbst bereits insgeheim Mitglied der NSDAP, war "außer sich", doch der junge Referendar überzeugte ihn nach langer Diskussion und bereitete selbst das Urteil für den spektakulären Freispruch vor. Seine juristische Argumentation war so hieb- und stichfest, dass das Berliner Kammergericht als Revisionsinstanz noch nach der Machtergreifung der Nazis gezwungen war, das Urteil zu bestätigen.

Zu der Zeit war Jablon bereits im Widerstand. Im Sommer 1932 hatte ihn ein Freund als Mitglied der Gruppe " Neu Beginnen" rekrutiert, einer linkssozialistischen Kaderorganisation. Als Jablon nach der Machtergreifung der Nazis aus "rassischen" Gründen auf die Straße gesetzt wurde, verschrieb er sich 100-prozentig der Widerstandsgruppe. Bereits Anfang April 1933 wurde er bei einer illegalen Zusammenkunft verhaftet. "Alles hätte passieren können", erzählt er - doch wie ein Wunder kam er wieder auf freien Fuß. Seine Situation war in jeder Beziehung "prekär", dennoch versuchte er unter allen Umständen in Deutschland zu bleiben, um seine Tätigkeit im politischen Widerstand fortsetzen zu können. 1935 verdichtete sich jedoch allmählich die Gefahr, dass die Organisation auffliegen würde. Die Situation wurde immer bedrohlicher. Am 15. September 1935 verließ Jablon "von einer Stunde auf die andere" Deutschland ohne Gepäck in einem Bummelzug in die Tschechoslowakei.

Im März 1936 reiste Jablon nach Paris. Er hoffte, in seiner Geburtsstadt mit gewissen Erleichterungen rechnen zu können, doch das Gegenteil war der Fall. Die Behörden behandelten ihn als "feindlichen Ausländer" mit dem größten Mißtrauen. "Ich hatte große materielle Schwierigkeiten, habe Schlipse verkauft, Artikel geschrieben, versuchte Patente zu verkaufen. Es war eine grauenhafte Situation." Ende 1938 besserte sich seine Lage, als es ihm gelang, die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

In Deutschland hatte sich inzwischen die Situation zugespitzt - vor allem für Juden. Nach der Pogromnacht 1938 wurde Jablon Generalsekretär einer Organisation, die jüdische Kinder aus besonders bedrohten Familien in Deutschland und Österreich retten wollte. Am 20. März 1939 verließen die ersten 130 Kinder in einem Eisenbahnzug Berlin. Ihre Reise ging zu Rothschilds Jagdschloss Chateau de la Guette in der Nähe von Paris. Jablons Organisation übernahm die Vormundschaft über die sechs bis 14 Jahre alten Kinder - mit der vollen Zustimmung ihrer Eltern.

Nach dem deutschen Angriff wurden die Kinder in die mittelfranzösische Provinz Auvergne evakuiert, wo sich auch die an den Rettungsbemühungen maßgeblich beteiligte Familie Rothschild aufhielt. Dort setzte Jablon seine Tätigkeit für die gefährdeten Kinder fort. Es gelang ihm, bei der Fremdenpolizei im Innenministerium des Vichy-Regimes für zwei Dutzend der Kinder Ausreisebewilligungen zu erhalten. Sie reisten im Juni 1941 von Lissabon aus nach New York.

Jablon erfuhr in Vichy, dass die Deutschen seine Auslieferung nach Artikel 19 des Waffenstillstandsabkommens bei den Franzosen beantragt hatten. Der Beamte im Ministerium traute seinen Ohren nicht, als ihm Jablon entgegnete: "Ich bleibe hier. Ich habe Verantwortung in diesem Land." Die Situation für ihn wurde immer gefährlicher, als ihm das Pétain-Regime mit einem eigens auf seine Person zugeschnittenen Dekret seine französische Staatsbürgerschaft entzog: "Das war selbst nach den Gesetzen des Vichy-Regimes vollkommen ungesetzlich." Mit Hilfe von Freunden aus der Résistance tauchte zunächst in Frankreich unter, schließlich gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Nach der Befreiung kehrte er an die Seine zurück.

Drei seiner engsten Angehörigen waren deportiert und von den Nazis ermordet worden. Seine Eltern hatte Jablon aufgrund eines guten Kontaktes zu einem leitenden Polizeibeamten der Ausländerbehörde noch rechtzeitig aus Nazi-Deutschland schleusen können. Sie wurden in Frankreich versteckt und überlebten.

Und die Kinder? Spätere Nachforschungen ergaben, dass 90 von ihnen überlebt haben, das Schicksal der restlichen 40 ist unbekannt. Viele der geretteten Kinder hatten durch die Nazis ihre gesamte Familie verloren.

Robert Jablon ging nach Kriegsende ins Bankgeschäft, zu Rothschild. Seine Beziehungen zu Deutschland waren in den Nachkriegsjahren fast ausschließlich geschäftlicher Natur und reichten von der Deutschen Bank bis Thyssen. In Berlin ist erst 1995 das erste Mal wieder für ein paar Tage gewesen: "Für mich war das eine ganz fremde Stadt." Politisch hat Jablon "gewisse Illusionen über eine paradiesische Zukunft der sozialen Bewegung" längst aufgegeben, Sein heutiger politischer Standort basiert auf einer marktwirtschaftlich-demokratischen Konzeption. Mit den deutschen Sozialdemokraten verbindet ihn schon lange nichts mehr: "Es gibt in Europa seit Jahren nur einen wirklichen Staatsmann und der heißt Helmut Kohl. Er ist der einzige Mann in unserer Zeit, der eine langfristige strategische Konzeption besitzt."


Dieser Beitrag wurde am 17. Oktober 1996 in der "Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" veröffentlicht.

Robert Jablon

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