Stefan Appelius


Direkt zum Seiteninhalt

Die Moabiter Unruhen

Politisches Lernen > Kaiserreich

Die Moabiter Unruhen

Von Stefan Appelius

Was als ganz gewöhnlicher Streik für ein paar Pfennig mehr Stundenlohn begann, gipfelte tagelang in blutigen Straßenschlachten mit der Polizei. Als sich 141 Berliner Kohlenfuhrleute mit dem Großindustriellen Hugo Stinnes anlegten, brodelte es in einem ganzen Stadtteil. Am Ende ging die Staatsmacht mit blankem Säbel auf Frauen und Kinder los.

Als der Handlungsgehilfe Katzmarek Ende September 1910 abends von der Arbeit nach Hause fuhr und an der Haltstelle Turmstraße aus der Straßenbahn stieg, hörte er hinter sich klatschende Schläge. Er drehte seinen Kopf. Im gleichen Augenblick traf ihn selbst ein heftiger Schlag mit einem Gummiknüppel. "Warum sind sie so neugierig?", rief der Kriminalbeamte. Und schon eilten mehrere uniformierte Schutzmänner mit gezogenem Säbel auf ihn zu. Katzmarek rettete sich im letzten Augenblick mit einem Sprung auf die fahrende Straßenbahn, mit großen Beulen und Striemen am Kopf. Er nehme an, erklärte Katzmarek später, dass er von den Ordnungshütern nur verprügelt worden sei, weil die sich "nicht beobachten" lassen wollten.

Nicht viel besser erging es dem Gießermeister Salbach. Der saß nach Feierabend gerade in seinem Stammlokal, als vier uniformierte Schutzleute mit Hurra und gezogenem Säbel in die Wirtsstube stürmten. Einer der Pickelhaubenträger rief: "Ihr verfluchten Hunde, wollt ihr raus!" Er habe sein Glas Bier noch ruhig in der Hand gehabt, als er plötzlich zwei Säbelhiebe erhielt, die das Fleisch bis auf den Knochen durchschlugen. Salbach stürzte aus dem Lokal hinaus. Auch auf der Straße prügelten Uniformierte auf ihn ein, immer von oben herunter. "Ich lief dann in höchster Erregung die Beusselstraße entlang", berichtete Salbach später als Zeuge vor Gericht: "Zu Hause war ich so erregt, dass ich wie ein kleines Kind weinte."

Ick breche jeden Streik

Am Nordrand des Berliner Stadtteils Moabit reihte sich vor hundert Jahren Fabrik an Fabrik und Wohnblock an Wohnblock. Gleichzeitig schossen etliche Kneipen wie Pilze aus dem Boden. "Dort herrscht der ausgeprägte Fusel-Sozialismus", berichtete der Korrespondent der konservativen "Königsberger Allgemeinen Zeitung" seinen Lesern und warnte vor trunkenen Gestalten: "Kein ehrsamer Bürger, der in jener Gegend zu wohnen verurteilt ist, wagt es, seine Frau abends über die Straße gehen zu lassen."

Der Beusselkiez war jahrzehntelang eines der homogensten Arbeiterwohnviertel Berlins, weiß der Historiker Dr. Thomas Lindenberger ("Die Moabiter Unruhen 1910"). Hier gab es keine Spur von sozialer Durchmischung. Sehr komfortabel eingerichtet waren die neu errichteten Wohnblocks nämlich nicht, selbst in den Vorderhäusern. Wer hier lebte und wählen durfte, votierte für die Sozialdemokraten, die praktisch alle Stimmen abräumten, die es zu gewinnen gab.

Nur einen Steinwurf von der S-Bahn-Station Beusselstraße entfernt befand sich der Kohlenplatz der Firma Kupfer & Co. Hier wurden Kohlenstücke zerkleinert und anschließend von Fuhrleuten mit Zweispännern im ganzen Stadtgebiet zu den Kunden transportiert. Und zwar englische Kohle, die der junge Mülheimer Großindustrielle Hugo Stinnes zu Schleuderpreisen anbot, um die alteingesessene Berliner Konkurrenz vom Markt zu drängen. Das verursachte enorme Verluste, die das Unternehmen mit Niedriglöhnen an seine Arbeiter weiterreichte. Die aber hatten in jenem Sommer nicht nur satte Preissteigerungen zu verkraften, sondern litten auch an explodierenden Mietkosten, da es überall an Wohnraum fehlte.

Als die Fuhrleute der Firma Kupfer & Co Mitte September 1910 in den Ausstand traten, ging es vor allem um eine Erhöhung ihres Stundenlohnes. Doch davon wollte man in der Geschäftsführung nichts wissen. Wozu verhandeln? Es gab doch genug Arbeiter. Während die Streikenden vor dem Werkstor demonstrierten, karrte der professionelle Streikbruchunternehmer Hintze ("Ick breche jeden Streik. In acht Dagen kann ick sechsdausend Mann uff de Beene bringen") wagenweise mit Revolvern und Knüppeln bewaffnete Arbeitswillige aus Hamburg heran.

Blaukoller im Beusselkiez

Während man im Beusselkiez noch auf eine Lohnerhöhung hoffte, hatte sich Stinnes schon längst an den Berliner Polizeipräsidenten gewandt. Traugott von Jagow ("Ich warne Neugierige!") versprach dem Unternehmer, die Staatsmacht werde alles tun, um die Streikbrecher zu beschützen. Fortan rumpelten die Kohlenwagen des Mülheimer Unternehmers mit bewaffneten Streikbrechern in Begleitung berittener Polizisten durch die Reichshauptstadt.

Sehr populär waren die in blaue Uniformen gekleideten Ordnungshüter mit ihrer markanten Kopfbedeckung bei den Berlinern nicht. Die Schutzmänner galten nicht nur als völlig humorlos, sondern vor allem als derbe Vollstrecker der Obrigkeit. Die meisten kleinen Leute empfanden eine tiefe Abscheu gegen die Polizei, die sich zum "Blaukoller" verstärkte, als die Schutzmänner dazu übergingen, Streikposten wegen "Verkehrsgefährdung" zu verhaften.
Die Situation eskalierte, als mehrere Arbeiter am 26. September 1910 versuchten, den Kutscher eines Kohlewagens vom Streikbruch abzuhalten. Die Polizei ging sofort mit äußerster Gewalt gegen die Menschenmenge vor. Es flogen Steine, die Menge johlte und einige ganz verwegene junge Männer stimmten Arbeiterlieder an, um die "Blauköppe" und "Bluthunde" zu verhöhnen.

In den folgenden vier Tagen herrschte im Beusselkiez der Ausnahmezustand. Beim Schichtwechsel in den Fabriken wimmelte es auf der Straße von Menschen, die zur Arbeit oder nach Hause eilten. Zur Mittagspause standen Scharen von Arbeitern auf der Straße, um zu Essen, was ihnen Frauen und Kinder im Henkelmann brachten. Für die Polizei ein einziger großer Unruheherd, den es laut Preußischem Innenministerium "mit schonungsloser Energie" zu bekämpfen galt, wobei "niemand zu schonen" sei.

Kleine Revolution

Bald schon waren alle Straßenlaternen zerschlagen, etliche Lokale und ein kleines Warenhaus geplündert. Überall auf den Straßen lagen Steine und Scherben, an einigen Stellen auch die heruntergebrannten Überreste von Barrikaden. An den Exzessen waren auch etliche Streikbrecher beteiligt. Mehrere Streikposten wurden von ihnen auf dem Kohlenplatz mit Ochsenziemern und Gummischläuchen brutal verprügelt. Die Zustände im Berliner Norden gerieten völlig außer Kontrolle, notierte das "Berliner Tageblatt" und berichtete: "Zahlreiche Personen erlitten schwere Verletzungen und als die Polizei die Straße geräumt hatte, schwamm das Trottoir förmlich in Blut."

Davon konnte sich auch der Berliner Korrespondent der Londoner "Daily News" überzeugen, der mit drei Kollegen mit seinem Auto zur fortgeschrittenen Abendstunde in die Turmstraße fuhr, um sich selber ein Bild zu machen. Die Engländer beobachteten gerade, wie uniformierte Polizisten ohne erkennbaren Grund zwei Dienstmädchen durch den Kleinen Tiergarten jagten, als sie selbst plötzlich auf Befehl eines Kriminalbeamten ("Dreinhauen!") von sechs Schutzmännern mit blanken Säbeln angegriffen wurden. Sie riefen noch, dass sie Journalisten seien und hielten ihre Presseausweise in die Höhe - doch das nutzte nichts: Lester Lawrence, der Korrespondent der Nachrichtenagentur "Reuters", erhielt einen Hieb, der den Mittelfinger seiner rechten Hand bis auf den Knochen durchschlug. In den "Daily News" hieß es am nächsten Tage, die Polizisten seien "wie die Wahnsinnigen" vorgegangen und trügen die Hauptschuld an der "kleinen Revolution".

Der preußische Innenminister sah das ganz anders. Es bestünde kein Grund, die Ereignisse zu tragisch zu nehmen, erklärte Hans von Dallwitz bei einem Besuch im Unruhegebiet und fügte vor Journalisten scherzhaft hinzu, schließlich hätten sich die Engländer ihre Wunden "auf dem Schlachtfeld" geholt. Erst später wurde bekannt, dass Dallwitz in jenen Tagen auch den Einsatz von Militär und den Gebrauch von Schußwaffen erwogen hatte.

Es grenzte an ein Wunder, dass bis Ende September - neben etlichen Schwerverletzten und überfüllten Krankenhäusern - nur ein einziger Arbeiter ums Leben kam. Es war ein alter Mann, der den verhängnisvollen Fehler beging, am frühen Abend auf die gerade geräumte Straße vor seinem Haus zu treten, um nach seinem Sohn zu suchen. Zwei Polizisten prügelten mit ihren Säbeln auf den friedlich seines Weges gehenden Mann ein, bevor ihm ein dritter Schutzmann seinen Säbel durch den Leib stieß. Die spätere Obduktion der Leiche ergab, dass der alte Mann einer schweren Kopfverletzung erlegen war.

Ein überraschendes Ende

Nach vier Tagen war die Bevölkerung in Moabit bezwungen und der Aufruhr beendet. Die meisten streikenden Arbeiter von Kupfer & Co wurden wieder eingestellt und mit der Aussicht auf eine spätere Erhöhung ihres Salärs vertröstet. Inzwischen schmorten mehrere Dutzend vermeintliche Rebellen in Untersuchungshaft und harrten ihrer Strafe. Wäre es nach Polizeipräsident von Jagow gegangen, man hätte sie alle wegen Landfriedensbruch für etliche Jahre ins Zuchthaus gesperrt.

Doch es kam ganz anders. Was als Abrechnung mit den Aufrührern gedacht war, endete vor der dritten Strafkammer des Berliner Landgerichts als Armutszeugnis der preußischen Monarchie. In wochenlangen Verhandlungen wiesen die Strafverteidiger Theodor Liebknecht, Kurt Rosenfeld und Wolfgang Heine den Behörden schwere Fehler nach. Am Ende gelangte Landgerichtsdirektor Lieber zu der Einschätzung, dass die streikenden Arbeiter ebenso wie die Bevölkerung einen berechtigten Anspruch auf Lohnerhöhungen gehabt hätten. Das Gericht sei zu der Auffassung gelangt, erklärte der im Geruch besonderer Strenge und politischer Zuverlässigkeit stehende Lieber, dass die Polizei wiederholt ihre Befugnisse überschritten habe.

Keiner der Angeklagten landete im Zuchthaus. Die vom Berliner Landgericht verhängten Gefängnisstrafen fielen ausgesprochen milde und fast durchweg geringer aus, als es die Staatsanwaltschaft in weiser Zurückhaltung beantragt hatte.

Und was dachte der Kaiser über die Vorgänge in Moabit? Wilhelm II ließ dem Berliner Polizeipräsidenten für seine hingebungsvolle Pflichterfüllung und maßvolle Zurückhaltung ausdrücklich gratulieren. Später gab es für Traugott von Jagow und seine Offiziere noch etliche Orden und Auszeichnungen.
Die Polizisten aber, die den alten Mann mit ihren Säbelhieben getötet hatten, die fand man "trotz intensiver Suche" nicht.

Home | Kontakt | Universität Oldenburg | Universität Potsdam | Politisches Lernen | Sitemap


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü