Stefan Appelius


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Ein Leben voller Widersprüche

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Ein Leben voller Widersprüche
Der politische Zickzackurs der Reichstagsabgeordneten Maria Reese

Von Stefan Appelius und Wolfgang Stelljes

Berlin, 1928: Eine junge Abgeordnete wähnt sich am Zenit ihrer politischen Laufbahn. Maria Reese ist voller Tatendrang. Nichts deutet darauf hin, dass ihr Einzug in den Reichstag der Beginn einer beispiellosen Odyssee ist. Doch schon bald kehrt sie der SPD den Rücken, dient erst Stalin, dann Hitler. Schwankend zwischen Denken und Fühlen, zwischen Opposition und Opportunismus, führt ihre Suche nach Geborgenheit zu einem Leben voller Widersprüche.

Maria Reese, 1889 im Eifelstädtchen Michelbach geboren, entflieht früh der provinziellen Enge. Bald darauf bricht die junge Lehrerin mit dem katholischen Weltbild ihres Elternhauses. Maria Reese nähert sich der Arbeiterbewegung - eine Affinität mit religiösen Zügen: "In mir lebte nach dem Ersten Weltkrieg die Sehnsucht nach dem Sozialismus, der die Menschheit von Not und Elend und vor weiteren Kriegen erretten sollte." Rasch findet sie sich in ihrer neuen politischen Heimat zurecht, schreibt für die sozialdemokratische "Volkswacht".

Wengerohr/Mosel, im Dezember 1920: Maria Reese besteigt einen Zug Richtung Trier, um in die Redaktionsstube zu fahren. Noch auf dem Bahnsteig kommt sie mit einer akten Dame ins Gespräch, die schnell bemerkt: "Sie sind doch sicher politisch tätig." Erst später stellt sich heraus, dass ihr Visavis Clara Zetkin war. Es beginnt eine mehr als politische Freundschaft: "Was scherte es mich, dass sie Kommunistin war."

Hannover, im Sommer 1927: Gustav Noske, Oberpräsident an der Leine, wird auf das Rednertalent von Maria Reese aufmerksam. Im Jahr darauf gelingt der temperamentvollen Politikerin aus dem Wahlkreis Südhannover-Braunschweig der Sprung in den Reichstag. Interfraktioneller Kontakt über mehrere Bankreihen hinweg ist schnell hergestellt: Ernst Torgler, der smarte KPD-Fraktionsvorsitzende, blinzelt ihr zu - nicht ohne Hintergedanken. Er bändelt an im Auftrag führender Genossen, so der Publizist Fritz Tobias. Mit Erfolg: 1929 wechselt Maria Reese das Lager. Für die Kommunisten verfasst sie nun Pamphlete über "das wahre Gesicht der SPD". Jahrzehnte später wird sie notieren: "Ich hielt die Kommunistische Partei für eine radikalere, aber immerhin doch sozialistische Partei und die negativen Berichte über die Sowjetunion für Propaganda."

Erste Zweifel kommen Maria Reese während eines gutorganisierten Krim-Besuchs. Feudal geht's zu im einstigen Sommerpalast des Zaren. Und weit und breit kein Arbeiter. Auf Parteichef Ernst Thälmann allerdings lässt sie nichts kommen. Der habe getobt, als man ihm berichtete, dass auf dem Bülowplatz zwei Polizisten hinterrücks erschossen worden waren und "wie man diesen Mord inszeniert hatte" - eine Tat, die Erich Mielke zur Last gelegt wird.

Berlin, 28. Februar 1933: Der Reichstag steht in Flammen. Wenige Stunden zuvor hat Maria Reese das Gebäude zornig verlassen. Führende Genossen reagieren ratlos auf Hitlers Machtergreifung: "Was sagt Moskau?" Doch Moskau schweigt. Am nächsten Morgen telefoniert sie mit ihrem engsten Parteifreund: "Ich wußte, dass Torgler der letzte Kommunist gewesen wäre, dem die Partei einen solch lächerlichen Auftrag, das Reichstagsgebäude anzuzünden, gegeben hätte." Danach trennen sich ihre Wege: Torgler stellt sich den braunen Häschern, Maria Reese setzt sich nach Skandinavien ab.

Nach einem Brief von Clara Zetkin packt sie erneut den Koffer. Maria Reese reist gen Kreml. Ihre Freundin, gebrechlich, aber geistig rege, läßt kein gutes Haar an den roten Machthabern: "Glaube ihnen nichts, liebe Maria, sie lügen." Und: "Sie toben ihre verbrecherischen Instinkte in der Arbeiterbewegung aus." Clara Zetkin gibt ihr einen Rat mit auf den Weg: Du musst fort. Nur nicht in ein Erholungsheim..." Dort verbringen mißliebige Genossen unfreiwillig ihren Lebensabend.

Paris/London, im Herbst 1933: Sei es Liebe, sei es Unrechtsbewußtsein - das Schicksal Torglers geht der Exilantin nicht aus dem Sinn. Von der Unschuld dieses Mannes überzeugt, beschwört sie den britischen Kronanwalt, dessen Verteidigung zu übernehmen. Aktivitäten, die in Paris und London nicht recht fruchten - und von Moskau nicht gern gesehen werden.In dieser Situation wendet sie sich an den Mann, der sich weder von Hitler noch Stalin blenden lässt: Leo Trotzki. Er hat sich aus gutem Grund verändert: "Man durfte nicht darüber sprechen, dass er sein berühmtes Bärtchen nicht mehr trug." Doch dem einsamen Theoretiker sind die Hände gebunden. Dem im Kreml wohl Bestgehaßten sitzt die Geheimpolizei im Nacken.

Erst jetzt, im Oktober 1933, bricht Maria Reese auch offiziell mit der Partei. Ihre geharnischte Kritik, von zahlreichen Zeitungen gedruckt, zeigt Wirkung: Das Zentralorgan der französischen Kommunisten "L'Humanité" bezichtigt sie "unverantwortlicher Schwätzereien". Von den einen ignoriert, von den anderen isoliert, lebt Maria Reese "wochenlang von Weißbrot, Eiern und Wasser. Sie fühlt sich von den Behörden drangsaliert, ihren einstigen Genossen verfolgt, wird von Heimwehr geplagt - und löst eine Fahrkarte ins Deutsche Reich.

Lüxem, im Herbst 1934: In dem kleinen Dorf unweit Trier ist die Freude groß über die Rückkehr der Tochter des kleinen Parteigenossen. "Soviel Heimatliebe war kaum zu ertragen." Dass die Lüxemer von den Ihren einiges erwarten, wird bei einem Dorffest klar. Am Ende stimmt die Kapelle das "Horst-Wessel-Lied" an - und alle heben den Arm: "Plötzlich kannte ich diese mir so vertrauten Leute nicht mehr." Maria Reese spürt viele Augen auf sich gerichtet. Und zögert nicht lange.

Auch höheren Ortes hat man die Wandlung der Maria Reese registriert: "Es kam eine Depesche, die mich nach Berlin rief." Sie soll im Rundfunk sprechen, mal über die Saarabstimmung, mal über ihre "Flucht aus der roten Hölle". Ob Rechtfertigung oder Illusion - sie glaubt, die Nazis beeinflussen zu können: "Ich sprach nicht für den Nationalsozialismus, ich sprach für Deutschland."

Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, im Frühjahr 1935: Hier traut man der neuen Mitarbeiterin nicht recht über den Weg. Die "unzuverlässige Vertrauensperson", so ein Vermerk in Gestapo-Akte B Nr. 328/35, soll gemeinsam mit Torgler ein Buch im Auftrag der Anti-Komintern verfassen. Die beiden wohnen in der Nähe Berlins und werden von der Gestapo bezahlt. Die "Abrechnung mit Moskau" wird dem "Führer" vorgelegt und - so ein internes Gestapo-Schreiben - "aufgrund seines bedeutungsvollen Gesamtinhalts für bestimmte Fälle bereitgehalten." Die Jahre des Wartens hinterlassen Spuren. Maria Reese befindet sich in einer "nahezu verzweifelten Stimmung". Das Buch mit antisemitischen Untertönen erscheint 1938.

Lüxem, am Abend des 2. März 1943: Gemeinsam mit Otto Grotewohl, einem alten Bekannten aus Hannoveraner Tagen, leert Maria Reese eine Flasche Mosel-Spätlese. Gegen Mitternacht will der künftige DDR-Ministerpräsident den Serviertisch über die Zukunft befragen. Zu Beginn des mystischen Treibens spricht Otto in seiner "salbungsvollen Art" die Beschwörungsformel. Glaubt man den Tagebuchnotizen Maria Reeses, so empfängt die angeheiterte Runde"Schwingungen des stärksten Mediums". Maria Reese erfährt so von der baldigen Rückkehr ihres Sohnes aus dem Krieg.

Doch das Orakel irrt. Im Juni 1944 wird Harro Dagobert Reese als vermeintlicher Fahnenflüchtling in Bessarabien standrechtlich erschossen. Einige Monate später teilt das Oberste Heeresgericht seiner Mutter mit, dass es sich um einen Irrtum gehandelt habe. Im Zuge der " Aktion Gewitter" verhaftet, entgeht sie selbst nur mit Glück dem KZ. Nach Kriegsende sehen die Alliierten in ihr eine opportunistische "Mitarbeiterin von Dr. Goebbels". Erst nach zwei Jahren öffnen sich die Tore des Internierungslagers für Maria Reese.

Wilhelmshaven, im Herbst 1952: Maria Reese unterrichtet an der Volksschule Allerstraße. Öffentlich warnt sie - so ein Beobachter - in "unzusammenhängender Weise" vor den Sowjets, bezichtigt Mitglieder der Roten Kapelle als "Vaterlandsverräter". In einem vertraulichen DGB-Papier heißt es über die "mehr als dubiose Dame": "Die Annahme, schon ein bloßer Antibolschewismus genüge, um ein wirklicher Demokrat zu sein, ist doch ein starkes Stück."

Am Ende ihres Lebens sucht Maria Reese wieder Orientierung im katholischen Glauben. "Man darf und soll seine Ansichten ändern, wenn die Gegebenheiten andere werden." Sie weiß um die Brüche in ihrem Leben. Und um den Preis. Maria Reese stirbt vereinsamt am 9. Oktober 1958 in Zell/Mosel. Ernst Torgler übrigens trat nach Kriegsende der SPD bei.

Dieser Beitrag wurde am 3. Januar 1993 im "Tagesspiegel" (Berlin) veröffentlicht.




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