Stefan Appelius


Direkt zum Seiteninhalt

Eine Garage voll Shakespeare

Politisches Lernen > Jüdisches Exil

Eine Garage voll Shakespeare
Zu Besuch bei Hans Seelig

Von Stefan Appelius

Sie sehen alle gleich aus: Die kleinen Einfamilienhäuser in Hemel Hempstead. Doch hinter der tristen Fassade des unscheinbaren Hauses im Wood Lane End bietet sich ein ganz anderes Bild. Rundherum, auf dem Fußboden, auf der Treppe - wohin man auch schaut - türmen sich alte Bücher, darunter viele deutsche Titel. Am Ende des kurzen Flurs, in der Küche, wird gearbeitet. Es riecht verführerisch. Hans Seelig (65) ist ein passionierter Koch. Wir sind zu Gast beim Vorsitzenden des "Club 43" - einer Vereinigung deutsch-jüdischer Emigranten, die sich seit mehr als 50 Jahren einmal wöchentlich im Londoner Norden trifft.

"Die Engländer haben früher sehr schlecht gekocht. Das Essen war einfach nicht genießbar", erzählt Seelig, während er eine Salami in Würfel schneidet. Er hat schon als junger Mann kochen gelernt: "Es war Selbstverteidigung gegen das Kochen meiner Mutter. Sie hat nicht schlecht gekocht, aber unglaublich langweilig." Der Junggeselle bedarf schon lange nicht mehr der Inspiration durch eines seiner 160 Kochbücher. Neben der englischen Küche liegt ihm besonders die deutsche am Herzen.

Seelig wurde 1930 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Mannheim geboren. Seinem Vater wurde im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse verliehen. "Er hat angeblich das Weinlager der Offiziere vor einer Brandbombe gerettet", erzählt Seelig und lächelt. Das war ganz in seinem Sinne. Er schwört nämlich auf deutschen Wein. Beim Pfälzer kommt er ins Schwärmen, am liebsten aber gönnt er sich ein Glas weißen badischen Weins vom Kaiserstuhl - den mit dem unverwechselbar starken Traubengeschmack.

Seelig ist fast jedes Jahr für zwei Monate zu Besuch in Deutschland. Auf dem Heimweg macht er stets für ein paar Tage Station in Mannheim, zu Besuch bei einem Jugendfreund. In seiner Geburtsstadt fühlt er sich noch immer heimisch: "Ich arrangiere es so, dass ich jedes Jahr meinen Geburtstag in Mannheim feiern kann." Das ist dann auch eine gute Gelegenheit, um nach Oberrottweil am Kaiserstuhl zu fahren und Weine zu probieren.

In seinem Wohnzimmer türmen sich alte Bücher und außerdem zahllose selbst aufgenommene Video-Cassetten auf. Etwa 12.000 Bücher lagern im Haus. Seeligs Antiquariat annonciert nirgends - die privaten Ankäufe gehen fast durchweg per Mundpropaganda über die Bühne. Fast jedes Wochenende ist er auf Büchermärkten und Auktionen in der Umgebung. Oft kauft er die Nachlässe verstorbener deutscher Emigranten auf: "Ich habe eine Garage voll unverkäuflichem Shakespeare auf Deutsch, Goethe, Heine, Grillparzer - meine Eltern haben genau dieselben Bücher mitgebracht. Und eine große Liebhaberei von vielen deutschen Emigranten war offenbar Hebbel." Seit etlichen Jahren engagiert sich der ehemalige Hochschullehrer in der britischen Labour Party: "Ich habe ziemlich sozialistische Preise, sie sind nicht sehr hoch. Wenn ich etwas billig kaufe, dann verkaufe ich es auch relativ billig."

Im März 1939 schickt seine Mutter ihn mit einem Kindertransport nach Schweden. "Sie wollte Wasser haben zwischen Deutschland und der Familie", erzählt Seelig. Zwei Wochen vor Kriegsausbruch traf der kleine Junge seine Eltern im britischen Seebad Brighton wieder. Seit 1947 ist Hans Seelig britischer Staatsbürger. Nach dem Militärdienst studierte er in Oxford. Er galt als einer der talentiertesten Nachwuchs-Komponisten in der traditionsreichen Elite-Universität. Doch aus seiner Karriere wurde nichts: "Ich hatte damals entsetzliche Angst vor jeder Aufführung. Wenn ich damit weitergemacht hätte, wäre ich bestimmt ziemlich bald Alkoholiker geworden."

Diese Angst, nicht akzeptiert zu werden, ist eine Nachwirkung seiner traumatischen Erlebnisse während der Kindheit in Nazi-Deutschland. Er hätte Musiklehrer werden können, studierte aber stattdessen Deutsch und Französich und wurde Sprachlehrer. Die Musik ist jedoch noch immer seine große Leidenschaft. Seelig leitet eine Gruppe für Musikverständnis an der "University of the third Age" - von Pensionären für Pensionäre. Ein paarmal im Jahr spricht er außerdem an der Midllesex University im Rahmen eines Kurses "Von Weimar bis Auschwitz".

Auch im "Club 43" referiert er am liebsten über Musik. Vor drei Jahren hat Hans Seelig den Vorsitz des einzigartigen Clubs deutscher Emigranten übernommen. Seine Glanzzeit hatte der Club während des Krieges. Mehr als 200 Mitglieder hatten sich in der von linksliberalen Intellektuellen gegründeten Vereinigung eingeschrieben. Nach Kriegsende fand man neue Aufgaben und wurde zur Begegnungsstätte der deutschen Kolonie an der Finchley Road, im Londoner Norden. Die deutsche Botschaft in London unterstützt den Club finanziell.

Doch die Reihen haben sich gelichtet. Heute sind es nur noch 35 Männer und Frauen. Aber die alte Emigrantenorganisation weigert sich, die Flinte ins Korn zu werfen. Nicht ohne Grund: Was deutsch war, hat keinen guten Namen in England. Fragt man die Engländer nach einem berühmten Deutschen, so lautet die häufigste Antwort mehr als 50 Jahre nach Kriegsende noch immer: Adolf Hitler. Der "Club 43" aber wurde von deutschen Emigranten gegründet, um die Kultur, die sie verlassen mussten, weiter zu tragen. Seit einigen Jahren bemüht sich Seelig, die Kultur, in die sie hinein emigrierten, nahe zu bringen: "Diese Synthese zwischen deutscher und englischer Kultur finde ich sehr wichtig. Wir nennen uns jetzt Anglo-German-Forum."

Inzwischen ist es später Nachmittag geworden. Heute abend trifft sich der Club. Seelig steigt ins Auto und fährt im abendlichen Berufsverkehr Richtung London. Er ist mit Abstand eines der jüngsten Mitglieder der Vereinigung, die nicht zuletzt dank seines Tatendranges einen konstanten Anstieg der Teilnehmerzahlen zu verzeichnen hat.

"Mir macht der Club Spaß. Ich gehe gern hin, ich mag die Leute", sagt er, während er zunächst nach Golders Green fährt. Hier steigen zuerst Hedy Friedmann (87) und Julia Schwartz (67), die Sekretärinnen des Clubs, ins Auto. Hedy ist Vorstandsmitglied des Clubs, 1938 von Hamburg nach England emigriert. Ohne das Zusammengehörigkeitsgefühl und die aufrichtige Freundschaft seiner Mitglieder würde es den Club nach ihrer Auffassung längst nicht mehr geben. Der Club, das ist auch 50 Jahre nach Kriegsende noch immer eine Schicksalsgemeinschaft aus Deutschland vertriebener Juden.

Hans Seelig organisiert das anspruchsvolle Programm des Clubs. Besonders achtet er darauf, dass nicht zuviele Vorträge zum selben Themenbereich angeboten werden. Nicht zu oft auch sollen dieselben Referenten sprechen. Wenn trotzdem jemand ausfällt, bestreiten Seelig und seine Vorstandsmitglieder das Programm eben selbst. Da kann es dann passieren, dass Ernst Flesch, der reiselustige Schatzmeister des Clubs, anstelle eines Vortrages über das Europäische Währungssystem aus dem Jemen berichtet.

Als seine Vorgängerin fast 90jährig starb, haben viele geglaubt, jetzt sei Schluß mit dem Club, erzählt Seelig. Das aber war mit ihm nicht zu machen: "Der Club hat die Aufgabe, den deutsch-jüdischen Beitrag zur europäischen Kultur solange wie möglich weiterzuführen und vielleicht auch einzupflanzen bei den Nachkommen dieser Emigranten."

Nach einer knappen dreiviertel Stunde Fahrt ist Seelig am Ziel. Seit einigen Jahren finden die Versammlungen des Clubs Montagabends in der " Belsize Square Synagoge" unweit der Finchley Road statt. Im hell erleuchteten Versammlungsraum herrscht eine familiäre Atmosphäre. Nach jedem Vortrag gibt es Tee und Kekse. Die alten Damen und Herren kennen einander. So interessant die Vorträge auch sein mögen - viel wichtiger ist die Geborgenheit der Gemeinschaft. Der "Club 43" bietet der kleiner werdenden Zahl deutsch-jüdischer Emigranten in London eine Heimstatt.

Dieser Beitrag erschien unter der Überschrift "Der vitale Club 43" in leicht geänderter Form zuerst am 10. Mai 1996 im "Aufbau" (New York).

Hans Seelig (18.07.1930 - 23.06.2009)

Hans SeeligHans SeeligClub 43Club 43Club 43Club 43Hans Seelig

Home | Kontakt | Universität Oldenburg | Universität Potsdam | Politisches Lernen | Sitemap


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü