Stefan Appelius


Direkt zum Seiteninhalt

Eine Handvoll verblichener Fotos

Politisches Lernen > Jüdisches Exil

Eine Handvoll verblichener Fotos

Von Stefan Appelius

Ihr Büro in der Fifth Avenue läßt keine Wünsche offen: Janine Weingarten ist bereits mit 29 Jahren Vizepräsidentin einer Investment Banker-Firma. Die attraktive Frau lebt und arbeitet unweit des "Trump Tower" in Manhattan, ist leidenschaftliche Skifahrerin und blickt einer steilen beruflichen Karriere entgegen. Kaum jemand weiß besser über die Aktien-Kurse an der Wall-Strett Bescheid als sie. Nur die Geschichte ihres eigenen Vaters, eines deutsch-jüdischen Einwanderers aus Berlin, die kennt sie nicht. Adolph Weingarten starb nämlich, als sie noch ein junges Mädchen war. Er hat ihr nie von sich erzählt. Beim Versuch, sein Geheimnis zu lüften, prallen Welten aufeinander.

Es fängt schon mit der Sprache an. Wie so viele Kinder deutsch-jüdischer Einwanderer in den USA spricht Janine Weingarten kein Wort Deutsch. Ihr Vater wollte nicht, dass sie seine Muttersprache lernt, erzählt sie und zieht genußvoll an ihrer Zigarette. Was der Name Weingarten wohl auf Englisch bedeutet? Nein, sie schüttelt den Kopf, das weiß sie wirklich nicht. Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, Einzelheiten aus dem Leben des Adolph Weingarten herauszufinden. Selbst im sonst so ausführlichen Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration findet sich nur eine schmale Eintragung unter dem Stichwort: "Weingarten, Adolph, Journalist; geb. 1. Sept. 1906 Berlin."

Wo aber kann Janine nach so vielen Jahren noch etwas über ihn erfahren? Da gibt es wohl keinen besseren Ort als den Stammtisch der Emigranten, der sich regelmäßig bei Gabi Glückselig in der Upper East Side trifft. Und tatsächlich: Das Ehepaar Olsen kann sich genau an Adolph Weingarten erinnern. "Er war ein Kommunist. Bevor sie ihn in die KPD aufgenommen haben, musste er seinen Genossen beweisen, dass er aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten ist und ihnen entsprechende Bescheinigungen vorlegen", erzählt Hilde Olsen

Ihr Vater ein Kommunist? Janine ringt um Fassung. Nein, das mag sie gar nicht glauben. Aus welchem Grunde wurde man damals denn Kommunist, brachte das etwa berufliche Vorteile? Adolph Weingarten verehrte in den 20er Jahren den ultralinken KPD-Politiker Arkardij Maslow (1891 - 1941), den er für einen "deutschen Lenin" hielt. Als Maslow im August 1926 im Konflikt mit Ernst Thälmann um die KP-Führung unterlag und wenig später nach altem kommunistischen Brauch aus der KPD ausgeschlossen wurde, gab auch Weingarten sein Parteibuch zurück.

Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten ging er mit seiner Frau Karola, den Schwiegereltern, mit Maslow und dessen Lebensgefährtin, der ehemaligen KPD-Reichstagsabgeordneten Ruth Fischer, nach Paris. Weingarten schlug sich in der französischen Hauptstadt als Auslandskorrespondent verschiedener sozialistischer Zeitungen durch, während seine Frau Flüchtlingskinder betreute. Dann kam der Krieg. Erst im letzten Augenblick gelang es ihm und seiner Frau 1940 nach dem deutschen Angriff aus Frankreich nach Marokko zu entkommen. Weingartens Schwiegereltern aber, Kommunisten wie er selbst, blieben zurück. Sie fielen in die Hände der Nazis und wurden in Auschwitz ermordet, ebenso wie seine Mutter, die sich nicht rechtzeitig zu einer Ausreise aus Deutschland entschließen konnte.

Die Wirren der Zeit gingen damals auch an Janines Vater nicht vorbei: Nach den blutigen Säuberungen in Moskau und der Verkündigung des Hitler-Stalin-Paktes war Weingarten ein überzeugter Anti-Kommunist geworden. Anders wäre es ihm und seiner Frau auch kaum gelungen, Mitte November 1942 von Casablanca aus an Bord der "Serpa Pinto" mit einem amerikanischen Visum nach New York zu gelangen. Die Einreise von Kommunisten war in den Vereinigten Staaten nämlich per Gesetz ausdrücklich unerwünscht, wie sich sein Schwanger Naftali Rosenfeld erinnert: "Wir waren erstaunt, dass er ein amerikanisches Visum erhalten hat." Und das buchstäblich in letzter Minute, denn es war kriegsbedingt die letzte Fahrt des portugiesischen Ozeandampfers in die amerikanische Metropole.

Hier war er, als untauglich für den Militärdienst in den US-Streitkräften ausgemustert, propagandistisch tätig. 1944/45 gab Weingarten gemeinsam mit Ruth Fischer die Zeitschrift The Network - Information Bulletin about Stalinist Organizations and Organizational Forms heraus. Das Blatt war in Emigrantenkreisen damals heftig umstritten, denn Fischer und Weingarten denunzierten darin zahlreiche Flüchtlinge als angebliche "Stalinisten", fast so, als hätte es in Amerika damals ganz Kolonnen davon gegeben. "Ich war auch Kommunist und wurde später Antikommunist. Aber zur Polizei bin ich nicht gegangen", meint Harry Asher am Stammtisch der Emigranten und schüttelt energisch den Kopf. Seine Verbindung zu Adolph Weingarten ist damals abgebrochen: "Ich wollte mit diesen Kräften nichts zu tun haben."

Während Ruth Fischer nach Kriegsende nach Europa zurückkehrte, blieb Weingarten in den USA. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und verdiente den Lebensunterhalt für sich und seine Frau als "truckdriver". Aus der Politik zog er sich zurück, ohne dass seine alte Begeisterungsfähigkeit dadurch verlorenging. Weingarten engagierte sich statt dessen für die Belange emigrierter deutscher Schriftsteller in New York, plante die Herausgabe eines (allerdings niemals veröffentlichten) Buches "Was Deutschland an Wissenschaftlern verloren hat durch Hitler".

Vor allem der Exilforscher Wilhelm Sternfeld (1888 - 1973) in London verdankte Weingarten in den 60er Jahren manche wertvolle Information. Er war mit dem Schriftsteller Franz Jung (1888 - 1963) befreundet und sammelte Zeitungsausschnitte, die er zahlreichen Klienten schickte, um sich ein Zubrot zu verdienen. Und schließlich half er dem Österreicher Joseph Buttinger Anfang der 60er Jahre beim Aufbau seiner legendären Studienbibliothek, die sich heute in Harvard befindet.

Doch nach dem Tod seiner Frau im Juni 1965 wurde auch das weniger, denn Weingarten hatte sich in eine junge amerikanische Zahnarzthelferin verliebt, die er schließlich heiratete: "Er hat ihr die Welt gezeigt, sie mit Literatur vertraut gemacht und ist mit ihr nach Europa gereist", erzählt Hilde Olsen. Seine Tochter Janine ist aus dieser zweiten Ehe hervorgegangen. Doch die Beziehung zu der jungen Frau ging schon nach einigen Jahren wieder in die Brüche, sie verließ ihn und nahm Janine mit sich: "Er war sehr unglücklich darüber", erinnert sich Hilde Olsen.

Anfang Januar 1985 ist Adolph Weingarten in einem Altersheim in New York verstorben. Beim Besuchen im Heim hat er - wenn überhaupt - nur noch Deutsch mit seiner Tochter gesprochen. Erinnerungen an gemeinsame Schachspiele, eine handvoll verblichener Fotos und ein alter Schwarz-Weiß-Film ohne Ton, den ihre Eltern kurz nach ihrer Geburt selbst gedreht haben - mehr ist Janine Weingarten von ihrem Vater nicht geblieben. Sie hat sich den Film auf Video überspielen lassen und ihn schon unzählige Male in ihrem Appartement betrachtet. Ab und zu ist ihr Vater irgendwo am Rande darauf zu sehen, ganz so, als könnte er für einen Augenblick der Vergangenheit entrissen werden.

Als kleines Mädchen war Janine mit ihren Eltern einmal in Deutschland. Berlin haben sie damals nicht besucht, erzählt sie, denn ihr Vater wollte auf keinen Fall in die geteilte Stadt. Er fürchtete, die Russen würden ihn bei dieser Gelegenheit aufgrund seiner Vergangenheit sofort verhaften. Janine hat ihren Vater damals nicht verstanden: Wer sollte es auch wagen, sich an einem ehrbaren amerikanischen Staatsbürger zu vergreifen, fragt sie, während sie sich eine neue Zigarette anzündet.

Wie aber sieht es mit ihrer eigenen kulturellen Identität aus? Janine ist nicht anders als andere amerikanische Mädchen aufgewachsen, sie interessiert sich nicht für Politik oder Literatur, hat erklärtermaßen keine jüdische Identität - und doch blitzt in ihren Augen eine Energie auf, die sehr an die einstige Tatkraft ihres Daddy erinnert. Dass sie jetzt einen Deutsch-Kurs belegen will, hätte ihn gewiss gefreut, denn mit Deutschland hat Adolph Weingarten trotz seiner schrecklichen Erlebnisse niemals gebrochen. Ganz im Gegenteil: Mit dem deutschen Botschafter in Washington pflegte er ebenso wie mit Staatssekretär Hans Herwarth von Bittenfeld im Bonner Bundespräsidialamt viele Jahre eine freundschaftliche Verbindung.


Dieser Beitrag wurde am 6. Juni 1997 im "Aufbau" (New York) veröffentlicht.

Janine Weingarten

Home | Kontakt | Universität Oldenburg | Universität Potsdam | Politisches Lernen | Sitemap


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü