Stefan Appelius


Direkt zum Seiteninhalt

Herta Liebknecht

Politisches Lernen > Jüdisches Exil

Ich hätte nicht mehr in Deutschland leben wollen
Herta Liebknecht, die Schwiegertochter
Karl Liebknechts


Von Stefan Appelius

Die meisten deutschen Emigranten in Paris haben kaum Verbindung untereinander.Einen Stammtisch der Emigranten, wie in New York, oder einen Emigranten-Club, wie in London, gibt es in der französischen Hauptstadt nicht. Hier lebt jeder für sich allein. Wenn dann auch noch der Ehepartner stirbt, bleibt oft nicht mehr als die Erinnerung. Das hat auch Herta Liebknecht (93) erlebt. Sie hat ihren Mann vor zwei Jahren verloren. "Es ist furchtbar schwer, allein zu leben", sagt sie, aber sie ist fest entschlossen, das Beste daraus zu machen. Regelmäßig vermietet sie ein Zimmer ihrer Wohnung an deutsche Studentinnen, und jeden Morgen geht sie für eine halbe Stunde in ihrem Stadtteil spazieren.

Die Kaufmannstochter Herta Goldstein wurde 1904 in Anklam / Pommern geboren.Als junges Mädchen war sie Mitglied im Kommunistischen Jugendverband, doch mit der Politik ist sie später auf ganz andere Weise in Berührung gekommen. Ihr Ehemann Robert war nämlich der Sohn des berühmten Revolutionärs Karl Liebknecht, den die Nazis auch nach seiner Ermordung als "Novemberverbrecher" ächteten. Das allein war Grund genug für das junge Ehepaar, unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in die französische Hauptstadt zu emigrieren.

Dank ihres berühmten Namens wurden sie von den dortigen Linksintellektuellen sehr freundlich empfangen. Doch wie sollten sie ihren Lebensunterhalt verdienen? Ihr Mann, ein Kunstmaler, war dazu kaum in der Lage. Das musste Herta Liebknecht selbst in die Hand nehmen, hatte sie doch einige Jahre zuvor an der Berliner Universitätsklinik ein Diplom als Gymnastiklehrerin erworben, das sie zur Spezialistin für die Behandlung von Rückgratverkrümmungen machte. Schmerzende Rücken gab es auch damals in Frankreich genug.

Schon bald nach ihrer Ankunft in der französischen Hauptstadt hatte Herta Liebknecht ein gutes Dutzend Privatschüler: "Davon konnte man gut leben", erzählt sie. Nach einiger Zeit gelang es ihr sogar, eine offizielle Arbeitserlaubnis zu erhalten. Das war gar nicht so einfach, erzählt Herta Liebknecht mit einem Lächeln, denn die berühmte französische Bürokratie war schon damals einfach "fürchterlich". Damals betreute sie im Rothschild-Krankenhaus jüdische Kinder, die von der französischen "Organisation zur Rettung der Kinder" (OSE) aus den Klauen des "Dritten Reichs" gerettet worden waren.

Doch dann kam der Krieg. Anfang September 1939 wurden Herta und Robert Liebknecht als "feindliche Ausländer" interniert. Während ihr Mann nach Les Milles in die Provence verschleppt wurde, kam Herta Liebknecht in das berüchtigte Internierungslager Gurs, unweit der spanisch-französischen Grenze.

Schließlich gelangte das Ehepaar wieder auf freien Fuß, um kurze Zeit später in einem kleinen Städtchen zu landen, das ihnen von den Vichy-Behörden als Zwangsaufenthalt zugewiesen wurde. Unter diesen Umständen war es sehr schwierig, sich um ein amerikanisches Visum zu bemühen, denn dazu war eine Reise in das US-Generalkonsulat nach Marseille zwingend erforderlich. Doch die Zahl der amerikanischen Visa war begrenzt. Die Liebknechts mussten in Frankreich bleiben.

Eine Zeitlang betreuten sie erneut jüdische Flüchtlingskinder, die von der OSE in die "freie Zone" gerettet worden waren. Doch dann wurde es immer gefährlicher, denn das Vichy-Regime war nach Artikel 19 des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrages verpflichtet, deutsche Emigranten auf Verlangen an das Nazi-Regime auszuliefern. Und das Pétain-Regime erfüllte diese Verpflichtung mit großem Eifer, glaubte man doch, sich dadurch seine "Unabhängigkeit" sichern zu können. Herta und Robert Liebknecht blieb nur noch ein Ausweg: Die Flucht in die Schweiz.

Zwar beschaffte ihnen ein Regierungsbeamter ein schweizerisches Visum, doch die stark bewachte Grenze musste dennoch bei Nacht überquert werden. Herta Liebknecht wird es nie vergessen: Ihr Mann hatte den Grenzzaun schon überquert. Plötzlich fielen Schüsse. Mit den Händen zeigt sie, wie knapp sie damals mit dem Leben davongekommen ist: "Die Kugeln sind nur eine Handbreit vor mir im Boden eingeschlagen." Doch es gelang ihr, über den Zaun zu klettern. Auf der anderen Seite wurden sie von Schweizer Soldaten in Empfang genommen. Die benahmen sich zum Glück mehr als vorbildlich: "Sie haben ihre Hemden zerrissen, um mir Windeln für mein Baby zu geben."

Nachdem das Ehepaar zunächst erneut in einem Lager interniert wurde, gelangte es schließlich in die Freiheit. Schweizer Freunde brachten sie in Lörrach unter. "Das war, Leider Gottes, ganz nahe an der Schweizer Grenze", erzählt Herta Liebknecht, die sich damals vor allem um ihre kleine Tochter Sorgen machte, die mehr als einmal in Richtung Grenzstreifen ausbüchste.

Doch dann war der Krieg vorbei, das Nazi-Regime zerschlagen. Nein, sie hat früher niemals darüber nachgedacht, nach Deutschland zurückzukehren. "Das kam für uns nicht in Frage. Ganz besonders nicht für mich, weil ich Jüdin bin. Meine Mutter wurde von den Nazis deportiert und ermordet. Ich hätte nicht mehr in Deutschland leben wollen." Hinzu kam, dass der Antisemitismus in Deutschland ganz offensichtlich nicht verschwunden war.

Herta und Robert Liebknecht kehrten nach Paris zurück und nahmen die französische Staatsbürgerschaft an. Untereinander sprachen die beiden damals meist französisch, denn ihre kleine Tochter wollte kein Deutsch lernen. "Jetzt ist sie mit einem Österreicher verheiratet", lacht Herta Liebknecht und fügt dann ernst hinzu: "Viele Emigranten haben in Frankreich große Enttäuschungen erlebt. In der Beziehung habe ich Glück gehabt. Meine Heimat ist jetzt hier." Mehrfach waren sie und ihr Mann nach Kriegsende in der ehemaligen DDR eingeladen, aber eine neue Beziehung zu Deutschland ist daraus nicht entstanden. "Das ist schon so lange her."

In Deutschland ist sie allerdings keine Unbekannte, denn erst vor einigen Jahren hat der deutsch-französische Kulturkanal "Arte" einen vielbeachteten Film über das Leben von Herta und Robert Liebknecht gemacht. Robert wurde inzwischen im Familiengrab der Liebknechts in Berlin beigesetzt. "Da komme ich auch einmal hin", sagt Herta Liebknecht und lächelt.

Dieser Beitrag wurde am 15. August 1997 im "Aufbau" (New York) veröffentlicht. Herta Liebknecht starb 2000 und wurde bei ihrem Mann, auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt. Ihr Vorname ist auf dem Grabstein falsch geschrieben.

Karl Liebknecht

Home | Kontakt | Universität Oldenburg | Universität Potsdam | Politisches Lernen | Sitemap


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü