Stefan Appelius


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Marienettas verschollene Bilder

Politisches Lernen

Marienettas verschollene Bilder

Von Stefan Appelius

In Hohen-Neuendorf bei Berlin wird am Jahrestag des Mauerbaus ein Platz nach Marienetta Jirkowsky benannt. Angehörige und Politiker stritten lange über den symbolischen Akt zu Ehren der jungen Frau. Die Staatssicherheit hatte alle Erinnerungen an sie tilgen wollen - doch nun sind verschollen geglaubte Fotos aufgetaucht.

Bärbel Kultus wollte nicht, dass man sich an ihre Nichte erinnert. Angeblich hätten es auch die verstorbenen Eltern des jungen Mädchens nicht gewollt. Diese Geschichte sei ihre Privatsache und gehe niemanden etwas an, schimpfte die alte Dame. Andere hätten es viel eher verdient, dass ein Platz nach ihnen benannt werde.

Das junge Mädchen wurde vor dreißig Jahren in Hohen-Neuendorf erschossen - beim Versuch, aus der DDR zu flüchten. Marienetta Jirkowsky, 18 Jahre alt, träumte von einem gemeinsamen Leben mit ihrem Freund in Freiheit. Nach ihrem Tod sammelte die Staatssicherheit alle Bilder ein, die es von Jirkowsky gab. Nichts sollte an das Mädchen erinnern.

In Hohen-Neuendorf wird an diesem 13. August der Marienetta-Jirkowsky-Platz eingeweiht. Weil Politiker in dem kleinen Städtchen nach reiflicher Überlegung beschlossen, sich nicht zu beugen, obwohl sich ein Chor der Entrüstung über die Pläne erhoben hatte. Und obwohl die Lokalzeitung, ein Heimatforscher und die Linkspartei auf den Barrikaden standen. Und die Tante.

Einen Platz nach ihrer Nichte zu benennen, hatte die 71-jährige Bärbel Kultus aus Fürstenwalde im Frühjahr einem Reporter der "SUPERillu" erklärt, sei überflüssig und "geschmacklos". Es sei doch "kein Verdienst", an der Mauer erschossen worden zu sein. Der Stadtverwaltung in Hohen Neuendorf schrieb sie, es sei "unverschämt und anmaßend", über die Geschichte zu recherchieren. Trotzdem habe man ihren Wunsch ignoriert, klagte Kultus in einem Interview: "So ist das eben bei Politikern, die sich profilieren wollen."

Sie spricht aus Erfahrung, denn auch das frühere SED-Mitglied Bärbel Kultus war einmal Kommunalpolitikerin. Davon erzählte Tante Bärbel den Journalisten allerdings nichts. Kein Wort auch davon, dass sie selbst seit 1970 beim Staatssicherheitsdienst der DDR (MfS) registriert war. "GMS Bärbel", die schon frühzeitig für die "sehr gute Durchführung einer operativ wichtigen Maßnahme" von ihrem Führungsoffizier beschenkt wurde, vertrat genau jene DDR, von der ihre Nichte am Ende die Nase gründlich voll hatte: "Sie ist ständig bestrebt die Beschlüsse von Partei u. Regierung durchzusetzen", lobte Bärbels Führungsoffizier.

Als sich Marienetta Anfang 1980 verliebte, herrschte zwischen ihren Eltern und Tante Bärbel Funkstille: Familienkrach. Erst als das junge Mädchen schon tot war, rührte sich die linientreue Tante wieder. Sie meldete sich im Büro von Feldwebel Dargel, dem verantwortlichen Mitarbeiter des MfS in ihrem Betrieb, und teilte pflichtgemäß mit, ihre Nichte sei bei einer "Grenzverletzung" tödlich verletzt worden. Trauer oder Bestürzung um den Verlust des jungen Mädchens waren aus der Meldung nicht zu ersehen. Eher die Sorge, selbst durch den leidigen Vorfall in ein schlechtes Licht zu geraten und sich deshalb vorsichtshalber zu distanzieren.

Der nicht – und damit basta

Marienetta war erst 17 Jahre alt, als sie sich in den 23-jährigen Peter verliebte. Der kam gut an bei den jungen Mädchen im Kreis Fürstenwalde: von sportlicher Statur, mit Schnurrbart und lockiger Mähne. Allerdings auch kein ganz unbeschriebenes Blatt. Der junge Mann war der Volkspolizei schon mehrfach aufgefallen. Mal wegen einer Prügelei, mal wegen eines Eigentumsdelikts. Schon als Teenager hatte man ihn wegen "Missachtung der Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens" für zwei Jahre weggesperrt. Peter war keiner, der sich gern unterordnete und als potentieller Schwiegersohn vermutlich nicht gerade der große Wurf. Tante Bärbel hielt ihn schlicht für einen "Asozialen".

So ähnlich dürften es auch Marienettas Eltern empfunden haben. Nachdem Peter Anfang Mai 1980 seine Frau und Tochter verließ und fortan mit Marienetta zusammen wohnte, hieß es: "Der nicht!" Doch das Liebespaar traf sich heimlich weiter, worauf das junge Mädchen an einem Sonntagnachmittag Besuch von der Spreenhagener Volkspolizei bekam und ernsthaft ermahnt wurde, den Kontakt zu Peter abzubrechen. Sollte sie zudem weiterhin die Arbeit in ihrem Lehrbetrieb schwänzen, könne sie mit zwei Jahren Gefängnis rechnen.

Für Peter kam es noch dicker. Er wurde von der Gemeinde Bad Saarow, Abteilung "Innere Angelegenheiten", aufgrund seines "negativen Lebenswandels" zur "kriminell gefährdeten Person" erklärt. Dazu gab es in der DDR eine gesetzliche Handhabe. Man erließ gleich mehrere Auflagen gegen den jungen Mann, um die unerwünschte Liebesbeziehung zu beenden. Peter durfte Marienetta für den Zeitraum von vier Monaten nicht mehr in seine Wohnung aufnehmen, seinen Wohnort ohne Genehmigung nicht verlassen, bestimmte Lokale nicht mehr betreten und hatte außerdem jeden Umgang mit Marienetta zu unterlassen. Er habe "ab sofort seine Lebensweise zu ändern", anderenfalls habe er damit zu rechnen, erneut "in Haft genommen" zu werden, teilte man ihm mit.

Eine starke Frau

Falko Vogt erinnert sich genau an die damalige Zeit. Er war mit Marienetta und Peter befreundet. Vogt schmiedete damals auch den Fluchtplan, der Peter und ihm die Freiheit brachte und Marienetta auf tragische Weise das Leben kostete. Bis heute lässt ihn die Erinnerung daran nicht los. "Ich habe mir damals geschworen, ich räche das", sagt Vogt: "Und wenn ich mein ganzes Leben dafür arbeiten muss."

Marienetta und Peter wohnten in verschiedenen Gemeinden und konnten nur durch Briefe in Verbindung bleiben, erzählt Vogt. "Die beiden litten sehr darunter, dass sie sich monatelang nicht sehen durften." Marienetta habe gewusst, dass ihre eigene linientreue Familie für die ausweglose Situation mitverantwortlich war. Nach monatelanger Gängelei sei ihr klargeworden, dass es im Arbeiter- und Bauernstaat für eine Beziehung mit ihrem "Peterle" keine Zukunft gab. Marienetta und Peter wurden durch die Polizeistaatsmethoden in der DDR regelrecht in die Flucht getrieben.

"Marienetta war eine starke Frau", sagt Falko Vogt. "Sie wollte denen keine Chance geben, sie und ihren Peter auseinander zu bringen. Eines war ganz klar. Sie wollte mit ihm zusammen weg von hier, für immer." Doch Marienetta schaffte es nicht in den Westen, sie starb bei dem Versuch, die Mauer zu überwinden. Von dem jungen Mädchen gab es öffentlich lange Zeit nur ein einziges Passfoto.

Harte Gangart

Jetzt sind in der Stasi-Unterlagenbehörde BSTU mehrere Fotografien und Dokumente von Marienetta Jirkowsky aufgetaucht, die bisher als verschwunden galten. Sie wurden von der Staatssicherheit nach deren Tod bei ihren Freundinnen und im Bekanntenkreis eingesammelt, weil man unter allen Umständen verhindern wollte, dass eine Fotografie von ihr in den Westen gelangt. Diese Bilder und Dokumente werden bei einestages erstmals gezeigt.

Im Herbst 1995 wurde vor dem Neuruppiner Landgericht ein Verfahren gegen zwei DDR-Grenzsoldaten eröffnet, die das junge Mädchen bei ihrem Fluchtversuch mit automatischen Waffen beschossen. Rückblickend meint Vogt, dass die damalige Richterin keinen großen Ehrgeiz entwickelt habe, um den Fall aufzuklären: "Für mich sah es so aus, dass die ganze Sache möglichst rasch vom Tisch sein sollte. Der ganze Prozess war eine Farce."

Vogt erinnert auch an einen Zwischenfall an der Berliner Mauer, der sich nur etwa vierzehn Tage vor dem Tod der jungen Frau ereignete. Damals erschoss ein 19-jähriger DDR-Grenzsoldat seinen Postenführer, bevor er sich in den Westen absetzte. Die Westberliner Staatsanwaltschaft schlug damals bewusst eine "harte Gangart" gegen Egon B. an und verurteilte diesen schließlich wegen Totschlags zu einer sechsjährigen Jugendstrafe. Ganz anders in Brandenburg. "Der Soldat, den man am Ende in Neuruppin verurteilte, bekam wegen ‚Totschlag im minderschweren Fall‘ nur fünfzehn Monate zur Bewährung", sagt Vogt und fragt: "War Mickis Leben weniger wert?"

Schlimmer aber noch, so Vogt, sei die Geschichte mit dem verschwundenen Grenzer. Dem Mann, der Marienetta mutmaßlich auf dem Gewissen hat. Dieser Grenzer gab aus geringer Entfernung zwei Einzelschüsse auf das an der Mauer hängende junge Mädchen ab und fügte ihr damit schwere innere Verletzungen zu. "Der war überhaupt nicht vor Gericht", sagt Vogt: "Die Richterin sagte, er sei schon tot." Davon aber weiß man in der Staatsanwaltschaft Neuruppin nichts. Dort heißt es auf Nachfrage, es gebe in den Gerichtsakten keine Hinweise darauf, dass der Postenführer Gerd J. bereits verstorben sei, wie es seinerzeit in verschiedenen Zeitungen gemeldet wurde.

"Das war Mord vom Mielke"

Inka Gossmann-Reetz hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit dem Schicksal von Marienetta Jirkowsky beschäftigt. Sie ging in Spreenhagen auf Spurensuche und setzte am Ende die Benennung eines Platzes nach dem jungen Mädchen durch, obwohl Tante Bärbel wochenlang Sturm dagegen lief. Doch Genugtuung verspürt die junge SPD-Politikerin nicht, als sie am 13. August in Hohen Neuendorf den Marienetta-Jirkowsky-Platz mit einer Rede einweiht. "Ein Menschenleben wurde sinnlos ausgelöscht", sagt sie. "Das einzige 'Verbrechen', das dieses Mädchen beging, war, dass sie sich in den 'falschen' Mann verliebte."

Eine kleine Begebenheit macht Hoffnung, dass die tiefen Gräben der Vergangenheit vielleicht doch einmal überwunden werden können. Im November 2004 erhielt Marienettas Vater im Krankenhaus Fürstenwalde Besuch von einer Berliner Kulturwissenschaftlerin. Ihr sagte er, dass er hoffe, dass seine Familie die Aufarbeitung der Geschichte seiner Tochter unterstützen werde. Wenige Tage später starb Marienettas Vater. Auf seiner Beerdigung in Spreenhagen tauchte auch eine der anderen Tanten von Marienetta auf. "Sie müssen das aufschreiben", sagte sie: "Wissen Sie, das war Mord vom Mielke. Das hat die ganze Familie kaputt gemacht."

Dieser Beitrag wurde zuerst auf Spiegel-Online veröffentlicht.

Falko Vogt

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