Stefan Appelius


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Verlängerte Mauer

Uni Potsdam > DDR

Fluchtweg Rumänien

Von Stefan Appelius

Die Donau ist einer der größten Flüsse in Europa. Heute genießen Touristen an Bord von Ausflugsdampfern die Schönheit der Natur - doch bis Ende der 1980er Jahre verknüpften sich mit dem majestätischen Strom auch die Hoffnungen vieler junger Menschen aus der DDR, die auf möglichst ungefährliche Weise über den Eisernen Vorhang in den Westen gelangen wollten. Sie reisten in die Sozialistische Republik Rumänien, um durch die Donau zu schwimmen und über das blockfreie Jugoslawien des Marschalls Tito in den Westen zu gelangen. Wie viele Flüchtlinge dabei im Laufe der Jahrzehnte ums Leben kamen, wird niemals genau feststellbar sein. Bisher hatte man - nach den alljährlich vorgelegten Zahlen der "Arbeitsgemeinschaft 13. August" über die Opfer des Eisernen Vorhangs - angenommen, in Rumänien seien keine DDR-Flüchtlinge ums Leben gekommen. (1) Doch diese Angabe ist mit Sicherheit falsch.

Wenig erforscht

Fluchten von DDR-Bürgern über die verlängerte Mauer in Südosteuropa wurden bisher wenig erforscht, obwohl bereits 1998 von der damaligen BSTU-Mitarbeiterin Monika Tantzscher eine erste Betrachtung über die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Verhinderung von "Republikflucht" vorgelegt wurde. (2) Diese Arbeit ist jedoch nicht nur sehr einseitig aus dem Blickwinkel des Repressionsapparates geschrieben und lässt die Schicksale der betroffenen Opfer völlig unbehandelt, sondern wertet auch eine größere Anzahl allgemeiner Übersichten des MfS aus, die aus heutiger Sicht als lückenhaft bezeichnet werden können, da sie nur einen Teil des damaligen Geschehens erfassen. Viel problematischer ist allerdings, dass es in der Stasi-Unterlagenbehörde bis zum heutigen Tage für nennenswerte Zeiträume in den 1960er und 1980er Jahren keine oder nur punktuelle Unterlagen hinsichtlich der Erfassung von Fluchtvorhaben von DDR-Bürgern an den Grenzen der südosteuropäischen Bruderländer gibt. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass das MfS in die Bearbeitung dieser Vorgänge erst Ende der 1960er einbezogen wurde, obwohl sich in den fraglichen Ländern insbesondere zur Ferienzeit bereits seit Anfang / Mitte der 1960er Jahre sogenannte Operativgruppen des MfS befanden. Diese Operativgruppen hatten unter anderem die Aufgabe, Fluchtvorhaben von DDR-Bürgern im Ausland zu unterbinden und die Arbeit professioneller Fluchthilfeorganisationen, die jahrelang in Südosteuropa tätig waren, wirksam zu unterbinden.
Wenig neue Erkenntnisse bietet auch der Ende 2008 erschienene Band "Die Gräber schweigen - Berichte von der blutigsten Grenze Europas". (3) Der Band enthält eine Reihe von Berichten über Einzelschicksale, verzichtet jedoch leider sowohl auf Fußnoten, als auch auf ein - bei einem Umfang von 455 Seiten dringend erforderliches - Register. Die Autoren behaupten in Schrift, "vermutlich" seien an der rumänischen Westgrenze während der Zeit des Eisernen Vorhangs mehr Menschen umgekommen, als an der innerdeutschen Grenze. Doch einen konkreten Beleg für ihre These können sie nicht erbringen. Eine solche Beweisführung ist ohne umfangreiches Aktenmaterial und die transparente Dokumentation konkreter Einzelfälle schlichtweg unmöglich.
Der wohl beste Rumänien-Kenner in der Berliner Stasi-Unterlagenbehörde ist Georg Herbstritt, der sich Ende 2009 in einem Aufsatz mit dem Fluchtweg Rumänien beschäftigte. (4) Allerdings lässt der Beitrag schnell erkennen, dass sich Herbstritt mit dem Thema "Republikflucht" bisher nur am Rande beschäftigt hat. Herbstritt legt in seinem Aufsatz umfangreiches Zahlenmaterial vor und referiert auch die Aufstellung der Operativgruppen des MfS, die - wie es in seinem Aufsatz heißt - etwa in der Volksrepublik Bulgarien bereits im Jahr 1961 erfolgt sei. Doch die bloße Zusammenstellung von Zahlen genügt nicht, um die Problematik zu erfassen und das Ausmaß der Verbrechen des damaligen Ostblock-Regimes im Bereich der verlängerten Mauer transparent zu machen. Dies belegt der Fall eines an der bulgarisch-griechischen Grenze im Sommer 1965 erschossenen jungen Brandenburgers, über den die Operativgruppe des MfS in der VR Bulgarien überhaupt nicht informiert wurde, obwohl doch die Aufgabe der Operativgruppe laut Herbstritt genau darin bestand. Die Rekonstruktion des Falles zeigt: Das Ministerium für Staatssicherheit war zu keinem Zeitpunkt in die Bearbeitung einbezogen, Schriftwechsel über das "Reisebüro der DDR" und den zuständigen Rat des Kreises (Abteilung Innere Angelegenheiten) abgewickelt, während die Stasi-Unterlagenbehörde über keinerlei Unterlagen zu dem fraglichen Ereignis verfügt. (5) Ein weiterer Schwachpunkt in der Darstellung Herbstritts besteht nach Auffassung des Verfassers darin, dass er bestimmte Angaben osteuropäischer Sicherheitsdienste, die der nachträglichen Legalisierung ihres Handelns dienen, ungeprüft übernimmt und damit als tatsächliche Sachverhalte deklariert. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob Grenzer in Rumänien und Bulgarien im Zusammenhang mit Fluchtversuchen zunächst Warnschüsse abgaben, wie offiziell behauptet wird, oder sofort gezielt das Feuer eröffneten - wie durch eine Vielzahl von Einzelfällen und Aussagen von Zeitzeugen inzwischen bestätigt wird.
In diesem Beitrag wird erstmals eine Reihe von Fluchtvorhaben von DDR-Bürgern dokumentiert, die in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren über die Sozialistische Republik Rumänien in den Westen zu gelangen versuchten. Sie werfen ein Schlaglicht auf das Grenzregime des Ceausescu-Regimes und die Zusammenarbeit der rumänischen "Securitate" mit dem ostdeutschen MfS.

Stefan Timm: Der Donauschwimmer

Stefan Timm hat seine Entscheidung nie bereut. Der emeritierte Professor für Altes Testament und biblische Archäologie an der Universität Hamburg verbrachte seine Jugend in Rostock. Im Sommer 1968, während man im Westen noch auf einen demokratischen Umbruch in der Tschechoslowakei hoffte, brach Timm zu einer Ferienreise auf. Mit Rucksack und Zelt als Tramper in eines der Bruderländer auf dem Balkan - das war so etwa das Exotischste, was man zu jener Zeit als junger DDR-Bürger erleben konnte. Als Timm im August 1968 per Anhalter in Rumänien direkt am Ufer der Donau landete, konnte er zunächst gar nicht glauben, an der Außengrenze des Warschauer Paktes gelandet zu sein: Er sah weder Stacheldraht, noch Grenztürme und Minenfelder. Von Grenzbefestigungen keine Spur. Alles war ganz anders, als an der militärisch hoch aufgerüsteten innerdeutschen Grenze.
"Unmittelbar neben der Stelle, wo ich ausgestiegen war, gab es ein Schild mit der Aufschrift ‚Strand'. Zur Donau waren es nicht viel mehr als 200 Meter. Der Weg schlängelte sich durch eine kleine Wiese und steuerte dann stracks auf die Donau zu. Etwa 80 Meter vor dem Ufer sah ich rechts und links einen Streifen, der geharkt aussah. Aber es gab keinen Grund, diesen ‚Grenzstreifen' zu betreten - wenn es denn einer war, weil für den Strandweg einige Meter ausgespart waren. An der Stelle, wo der Strandweg den geharkten Streifen querte, stand rechts ein kleines Häuschen. Anfänglich dachte ich, dass es wohl ein Kontrollposten sein müsse, doch je näher ich kam, desto deutlicher wurde, dass es zerfallen war. Möglicherweise hat es früher einmal als Eingangssperre zum ‚Strandbad' gedient" (6), heißt es in den unveröffentlichten Erinnerungen von Stefan Timm. Es war der Moment, in dem sich der sportliche junge Mann aus Rostock nach kurzer Überlegung dazu entschied, nicht - wie geplant - zu seiner ostdeutschen Freundin nach Ungarn zu fahren, sondern statt dessen nächstens einen Versuch zu unternehmen, den Strom zu durchschwimmen, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Gründe, sagt Timm, gab es viele: Die geistige Enge im "Arbeiter- und Bauernstaat", aber auch, dass er auf keinen Fall als Soldat zur "Nationalen Volksarmee" (NVA) eingezogen werden wollte.
"Nach 10 Uhr wurde es ganz still. Ich hörte nur noch die Geräusche einer warmen südländischen Sommernacht - irgendwo in weiter Ferne Hundegebell, viel stärker und viel näher aber tausende von Grillen. (…) Das Wasser war viel wärmer, als ich vermutete. Davor, dass das Wasser sehr kalt sein könnte, hatte ich wirklich Sorge gehabt. Das Bündel mit den Sachen blubberte ein paar Mal, ging aber nicht unter. Es schwamm mal hinter mir, mal neben mir; so war ich nicht allein. (…) Beim Schwimmen kam mir eigentlich nie der Gedanke, dass ich ertrinken könne. Ich bin als Rettungsschwimmer ausgebildet und weiß ziemlich genau, wo meine Grenzen beim Schwimmen sind (…). Nach etwa eineinviertel bis eineinhalb Stunde kam das (…) jugoslawische Ufer sichtlich näher. Ich guckte mir eine geschützte Stelle aus, um ans Ufer zu kommen." (7)
Stefan Timm gelang es schließlich auf abenteuerlichen Wegen, Jugoslawien zu durchqueren und schließlich mit einem Ersatzdokument der bundesdeutschen Botschaft in Belgrad über die Berge nach Österreich zu gelangen, nachdem man ihm vor dem ebenfalls möglichen Fluchtweg in Richtung Italien schon wegen der Haie in der Adria abgeraten hatte. Timm war ein echter Glückspilz, denn auch dieser zweite Abschnitt seiner Flucht war keineswegs ungefährlich. Heute wissen wir durch die Auswertung von umfangreichem Aktenmaterial bei der "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" (BSTU), dass Jugoslawien mindestens bis Anfang der 1980er Jahre Flüchtlinge aus der DDR und deren sozialistischen "Bruderländern", soweit sie von den Belgrader Behörden auf jugoslawischem Staatsgebiet aufgegriffen wurden, nach kurzer Inhaftierung abschob und den Staatssicherheitsdiensten in Rumänien und Bulgarien übergab, die ihrerseits mit dem Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit (MfS) kooperierten.

Wulf Rothenbächer: Der verratene Fluchtplan

Auch der in Ostberlin lebende Wulf Rothenbächer und seine Freundin Heidemarie Nicklisch entschieden sich, den Versuch zu unternehmen, die rumänisch-jugoslawische Staatsgrenze zu überqueren, um auf diesem Weg in die Bundesrepublik zu gelangen. Den Tipp dazu hatten sie aus dem Bekanntenkreis erhalten. Rothenbächer ging davon aus, dass die Staatsgrenze zwischen den beiden Ländern im Banat "nur durch relativ wenige Grenzposten und durch einfache Grenzzäune gesichert" war. An der innerdeutschen Grenze schien ihnen ein solches Vorhaben zu gefährlich zu sein. Der angehende Facharzt Wulf Rothenbächer hielt nichts vom SED-Regime und wartete schon seit Jahren nur auf eine Gelegenheit, in die Bundesrepublik zu fliehen. Die Stasi hatte schon im Sommer 1965, als er noch an der Humboldt-Universität studierte, einen "Operativ-Vorlauf" gegen ihn angelegt. (8) Anfang Mai 1970 reisten Rothenbächer und Nicklisch getrennt voneinander in die Sozialistische Republik Rumänien, um ihr Vorhaben, gemeinsam mit einem weiteren Ostberliner Bekannten, in die Tat umzusetzen.
Im Frühjahr 1970 schien der richtige Moment gekommen zu sein: "Unser Plan war, so dicht wie möglich, unauffällig mit der Bahn an die Grenze zu kommen und dann zu Fuß als Feldhase unbemerkt nach Jugoslawien durchkommen. Das ging nur in der Dunkelheit. In Jugoslawien wollten wir uns dann nach Belgrad durchschlagen. In der Deutschen Botschaft hat man damals auch als DDR-Bürger provisorische Papiere bekommen, mit denen man über Österreich nach Westdeutschland reisen konnte." (9) Doch der Plan ging schief. Während ihr Bekannter und ein rumänischer Fluchthelfer es schafften, nach Jugoslawien zu gelangen, wurden Wulf Rothenbächer und seine Begleiterin von einem Grenzsoldaten, der plötzlich aus einem Erdloch vor ihnen auftauchte, im letzten Augenblick mit Waffengewalt daran gehindert.
Das Paar wurde nach mehrwöchiger Inhaftierung im Gefängnis von Temeschburg Ende Juni 1970 zur Rückkehr in den "Arbeiter- und Bauernstaat" aufgefordert. "Während meiner Haft in der Sozialistischen Republik Rumänien wurde ich weder einem Richter vorgeführt noch wurde mir ein Haftbefehl verkündet. Es fand keine Gerichtsverhandlung in der Sozialistischen Republik Rumänien statt. Ich bin durch kein rumänisches Gericht verurteilt worden" (10), gab Rothenbächer den Vernehmern des MfS zu Protokoll, nachdem man ihn kurze Zeit nach seiner Rückkehr Ende Juni 1970 wegen des gleichen Deliktes an seinem Arbeitsplatz in Ostberlin erneut verhaftet hatte. (11) Rothenbächer fand sich schließlich nach seiner Verurteilung wegen Republikflucht (12) im Zuchthaus Cottbus wieder, bevor er 1971 aus dem "Roten Elend" in die Bundesrepublik freigekauft wurde. (13)

Der Fall Anton Frank: Rätselhafte Todesumstände

Ganz anders endete hingegen die Fluchtgeschichte des jungen Leipziger Ingenieurs Anton Frank, der im Herbst 1970 versuchte, durch die Donau nach Jugoslawien zu schwimmen. Frank, ein gebürtiger Rumäniendeutscher, der mit seinen Eltern auf der Flucht vor der Roten Armee in der späteren DDR strandete, hatte 1967 sein Studium abgeschlossen. Eigentlich hatte er Apotheker werden wollen, doch stattdessen musste Frank Bau-Ingenieur werden. Anschließend im Leipziger Industriemontagewerk beschäftigt, wurde der junge Katholik in der DDR nie recht heimisch. Maria Frank beschreibt ihren Bruder, der farbige Postkarten von London sammelte, als einen weltoffenen Menschen, der unter der Enge des Ostblocks litt: "Am liebsten hätte Anton in den USA gelebt." (14)
Was sich im Zusammenhang mit der Flucht von Anton Frank im Spätsommer 1970 in Rumänien genau ereignete, ist bis heute unbekannt. Sicher ist nur, dass seine Leiche am 11. Oktober 1970 im Bezirk Vidin (Volksrepublik Bulgarien) von Fischern aus der Donau geborgen wurde. Anton Frank hatte sich Ende September 1970 für einige Tage in der Volksrepublik Bulgarien aufgehalten und war am 2. Oktober 1970 über den Kontrollpunkt Rousse nach Rumänien ausgereist. Wahrscheinlich hatte sich Anton Frank auch in Bulgarien nach einem geeigneten Fluchtweg in Richtung Westen umgesehen. Denn es ist unzweifelhaft, dass der junge Mann einen Weg suchte, um aus dem Ostblock in die Bundesrepublik zu gelangen. Das belegt indirekt auch ein Bericht des damaligen Leiters der Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in Bulgarien, Hauptmann Fleischhauer: "Am Körper der Leiche befanden sich in einem Brustbeutel u.a. der Personalausweis, die Reiseanlage, Fahrerlaubnis und weitere Reisedokumente, die eine zweifelsfreie Identifikation der Person zuließen. Die weitere Untersuchung ergab, dass der Tod durch Ertrinken eingetreten war. Nach Einschätzung der Sachverständigen war Frank bereits drei bis sieben Tage vorher ertrunken, so dass sein Leichnam etwa 300 - 350 km donauabwärts getrieben wurde. (…) Es ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Frank in dem Donauabschnitt ertrank, wo der Fluss die Grenze zwischen der SR Rumänien und der SFR Jugoslawien bildet. Das wiederum und einige andere Fakten lassen den Schluss zu, dass Frank die rumänisch-jugoslawische Grenze durchbrechen wollte." (15)
Wie in solchen Fällen in der Volksrepublik Bulgarien üblich, wurde die Rückführung der sterblichen Überreste des Anton Frank in die DDR auf Anweisung der DDR-Behörden verhindert. Wie es in einem Bericht des damaligen Leiters der ostdeutschen Konsularabteilung in Sofia vom 23.10.1970 heißt, wurde Frank bereits am 14. Oktober 1970 "aus gesundheitshygienischen Gründen" im nahe gelegenen Slatin Rok erdbestattet: "Auf dem Grabhügel wurde ein hölzerner Obelisk von etwas über 1 m Höhe errichtet, an dessen Spitze sich ein 5-zackiger Stern befindet. Der Obelisk trägt in lateinischen Buchstaben die Inschrift Anton Frank und das Beisetzungsdatum 14.10.1970." (16)
Maria Frank arbeitete damals als Krankenschwester in Eilenburg. Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes suchten sie an ihrem Arbeitsplatz auf und erklärten ihr, wie sich die Zeitzeugin erinnert: "Ihr Bruder ist nicht mehr unter den Lebenden." Besonders geschockt war sie aber auch darüber, dass man Anton Franks sterbliche Überreste bereits an Ort und Stelle beerdigt hatte. Maria Frank: "Ich bin damals gemeinsam mit meiner Mutter sofort nach Bulgarien gereist. Meine Mutter wollte unbedingt mit dem Arzt sprechen. Sie traf ihn im Krankenhaus von Slatin Rok und unterhielt sich auf Rumänisch mit ihm. Er sagte ihr, dass Anton schon tot gewesen sei, als man ihn in die Donau geworfen habe. Und er sagte ihr auch, dass die Leiche meines Bruders Würgemale aufgewiesen habe." (17)
Später reiste Maria Frank dann mit ihrer Mutter noch einmal in das DDR-Konsulat in der bulgarischen Hauptstadt Sofia, um mit einem Regierungsvertreter der DDR zu sprechen. Der zuständige DDR-Konsul Voss habe ihrer Mutter heftige Vorwürfe gemacht, was sie für ein Kind erzogen habe, erinnert sich Maria Frank, die an der Begegnung teilnahm: "Anschließend hat er uns aus dem Konsulat herausgeworfen." (18)

Der Fall Rudolph Badendererde: Auf der Flucht erschossen

Zwei Jahre später. Am Abend des 23. August 1972 wurden an der bulgarisch-jugoslawischen Grenze unweit der Grenzübergangsstelle Kalotina Wera Sandner aus Cottbus (26) und ihr Verlobter Rolf Kühnle (32) aus Nürnberg von bulgarischen Grenzern erschossen. Im Zusammenhang mit diesem schweren Grenzzwischenfall, der im Zusammenhang mit der Tötung des Westdeutschen Rolf Kühnle auch in der Bundesrepublik für einige Tage erhebliches Aufsehen auslöste, wurde in der Handelsvertretung der Bundesrepublik Deutschland in Sofia bekannt, dass sich nur eine Woche zuvor im benachbarten Rumänien ebenfalls ein tödlicher Fluchtversuch von DDR-Bürgern ereignet hatte. (19) Ein Ehepaar aus Rostock versuchte in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1972 gemeinsam mit seiner 9jährigen Tochter die Staatsgrenze zwischen Rumänien und Jugoslawien auf dem Landweg zu überqueren. Sie durchquerten zunächst ein Maisfeld und gelangten in die unmittelbare Nähe der Grenze. Die rumänischen Grenzer wurden durch einen Signaldraht alarmiert und erschossen den 41jährigen Rudolph Babendererde. Die Frau und Tochter des Pädagogen wurden festgenommen und bereits nach wenigen Tagen an Mitarbeiter des MfS übergeben.
Rudolph Babendererde wurde in Rumänien beigesetzt, wo seine sterblichen Überreste noch heute ruhen. Die DDR-Behörden lehnten zu diesem Zeitpunkt die Rückführung der Leichen in den Bruderländern getöteter "Republikflüchtlinge" grundsätzlich ab, wie am Beispiel der einschlägigen Praxis bei solchen Fällen in der Volksrepublik Bulgarien u.a. auch am Beispiel der in einem Vorort von Sofia beerdigten Wera Sandner aufgezeigt werden kann.
Der hier folgende Fall ereignete sich zwölf Jahre später, im Herbst 1984, und wurde vor allem auch deshalb ausgewählt, um die ungeheure Brutalität der damaligen Grenztruppen der Sozialistischen Republik Rumänien zu dokumentieren.

Der Fall Eike Radewahn: Das brutale Ende einer Flucht

Die Krankenschwester Eike Radewahn (20) war im Bezirkskrankenhaus Magdeburg beschäftigt. Die junge Frau träumte schon lange davon, andere Länder kennenzulernen - und zwar nicht nur die "Bruderländer" der DDR. Hinzu kam eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen in der DDR, mit denen sich Eike Radewahn schon als Heranwachsende nicht arrangieren wollte. Schon als zwölfjähriges Mädchen beschloss Radewahn, wie sie später in Verhören einräumte, in Zukunft einmal in den Vereinigten Staaten von Amerika zu leben. Ende November 1984 reiste sie in Begleitung des Ostberliner Werkzeugmachers Werner K. (39) und des Facharbeiters Frank S. (23) aus der DDR nach Rumänien, um die Donau in der Gegend beim "Eisernen Tor" zu durchschwimmen ("Alles war perfekt vorbereitet"). Das schien ihnen zur damaligen Zeit - nach reiflicher Überlegung - der "sicherste" Fluchtweg in die Bundesrepublik zu sein, erinnert sich Eike Radewahn. (20) Die jungen Leute hatten sich mit Neopren-Anzügen ausgerüstet, als sie am Abend des 30. November 1984 von ihrem Motel aus den Fluchtversuch unternahmen. Eike Radewahn hat einen Bericht über die Ereignisse im Zusammenhang mit ihrer Flucht verfasst, der hier erstmals in Auszügen veröffentlicht wird:
"Die Donau befand sich nur ca. 25 Meter von unserem Zimmer entfernt. Am gegenüberliegenden Ufer sahen wir die Lichter der Freiheit. Wir wussten, dass Jugoslawien nicht mehr auslieferte und wollten dann weiter nach Belgrad in die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Wir hatten uns für diese Stelle entschieden, weil es dort in der Donau drei, hinter einander liegende kleine Inseln/Landzungen gab. Die Strömung der Donau war sehr stark. Nach unseren Berechnungen wären wir am Ende der ersten Landzunge angekommen, hätten auf ihr nur wieder zum Anfang hoch laufen müssen und wären dann zur nächsten Insel getrieben/geschwommen. Dort wären wir wieder die zum Anfang hoch gelaufen und hätten uns zur dritten Landzunge treiben lassen ...
Werner teilte 1.000 DM und 2.000 DDR Mark unter uns auf. In unseren Brustbeuteln hatten wir das Geld und unseren Ausweis. Jeder von uns verpackte einen Skianzug, Moonboots, warme Unterwäsche und Socken, so wie ein Handtuch in eine Plastiktüte. Die versuchten wir so klein wie möglich zusammen zu drücken und umwickelten diese noch einmal mit Folie, in der Hoffnung, dass die darin befindliche Kleidung trocken bleiben würde. Um das Paket wickelten wir ein Seil. Gegen halb zwei Uhr nachts zogen wir unseren Neoprenanzug an. Dann rieben wir, zum Schutz vor dem eiskalten Donauwasser, unser Gesicht und Hals dick mit Vaseline ein. Zum Schluss wickelten wir das Seilende unseres KleidungsPaketes um unsere Hüfte. Dann kletterten wir aus dem Fenster. In der einen Hand das Paket und in der anderen die Schwimmflossen. Wir mussten über einen kleinen Zaun steigen und eine Uferböschung herunter klettern. Die Böschung war betoniert und sehr steil. Um ohne Sturz an/in die Donau zu gelangen, mussten wir im Krebsgang die Böschung herunter rutschen. Das wurde uns zum Verhängnis. Durch die extreme Steilheit brauchten wir unsere Hände. Also ließen wir das mit einem Seil umwickelte Plastikpaket, welches wir um unsere Hüften gesichert hatten, los und ließen es langsam vor uns die Böschung hinunter gleiten. In der einen Hand hielten wir noch die Flossen und versuchten irgendwie unbeschadet an die Donau zu gelangen.
Die Plastikpakete verursachten auf dem Beton ein relativ lautes Geräusch in der Nacht (an einer Grenzanlage). Wir kamen am Ufer an. Es ging alles sehr schnell. Die Männer waren schon im Wasser. Ich stand/hockte in der Donau und zog mir die zweite Schwimmflosse an, als plötzlich auf uns geschossen wurde. Es war sehr dunkel. Ich erkannte nichts. Nur die auf den Beton aufschlagenden und funkensprühenden Patronen waren sichtbar. Immer und immer wieder. Zuvor hatten wir vereinbart, dass, wenn es zu einem Zwischenfall kommen sollte, keiner alleine weiter schwimmen wird. Unser Leben war uns wichtig. In der Donau erschossen zu werden und zu ertrinken wollte keiner von uns. Wir kletterten aus dem Wasser und hörten nur eine Stimme. Es gab Verständigungsprobleme. Immer wieder wurde zwischen/auf uns geschossen. Dann wurden Leuchtkugeln in den Himmel geschossen. Und wieder wurde auf uns geschossen. Dann konnte ich fest stellen, dass es nur ein Grenzsoldat war. Er selbst war auch sehr hektisch und panisch. Immer wieder mussten wir uns auf den Bauch legen, in die Hocke gehen oder vor ihm her laufen. Dann trennte er uns und wir mussten im Abstand von einigen Metern Stehen, Hocken und Liegen. Seine Kommandos wurden immer mit Schüssen begleitet. Er ging zu jedem von uns ...
Er kam zu mir, riss meinen Neoprenanzug auf, leerte meinen Brustbeutel, nahm mir meine Uhr und Kette ab. Dann separierte er mich und musste ich vor ihm herlaufen. Von hinten begrapschte er meinen Körper. Ich musste stehen bleiben. Zwischendurch schrie er immer wieder die Männer an und schoss auf sie. Er zog mir den Neoprenanzug runter, befasste meine Brüste und Intimbereich. Irgendwann scheuchte er mich zurück zu den Männern. Und immer wieder schoss er zwischen uns ...
Ein Armeejeep kam an. Wir wurden unter lautem Gebrüll die steile Böschung hoch getrieben. Am Jeep wurden uns auf dem Rücken, viel zu eng, die Handschellen angelegt. So mussten wir den hohen Jeep erklettern. Das war uns unmöglich. Wir wurden wie Vieh dort hinein manövriert. Mit Tritten, Schlägen und Geschrei.
Wir lagen im Jeep und fuhren nur eine kurze Strecke. An einem Maschendrahtzaun, der zu einer kleinen Kaserne gehörte, wurden wir neben einander, mit den viel zu engen Handschellen und erhobenen Armen, angekettet. Wir befanden uns außerhalb der Kaserne. Direkt hinter uns befand sich ein Dorfplatz. Es war der 1.Dezember 1984. Es war eiskalt. Es war nachts. Wir waren barfuß, nass und in Neoprenanzügen. So standen wir einige Stunden. Ich froh erbärmlich. Immer wieder kamen Soldaten zu mir, zogen mir meinen Neoprenanzug runter und vergingen sich an mir. Wehrten sich die Männer verbal gegen die Angriffe, die auf mich verübt worden, bekamen wir Schläge mit der Faust oder den Gewehrkolben. In die Nieren, auf den Kopf, Beine.
Als es hell wurde kamen die Dorfbewohner. Wir wurden wie Schlachtvieh vorgeführt. Die Bewohner beschimpften uns als ‚Nazis', spuckten uns an, schlugen uns nach Lust und Laune, übergossen uns mit Wasser, Abfällen und Fäkalien. Irgendwann wurde ich los gekettet und von zwei Soldaten in die Kaserne geführt. Dort wurde ich vergewaltigt ...
Dann durfte ich mir meine Kleidung anziehen und wurde wieder an den Zaun gekettet. Werner und Frank standen noch immer in ihren Neoprenanzügen. Irgendwann am Mittag wurden wir in die Kaserne geführt und die Männer durften sich umziehen." (21)
Schon als Jugendliche hatte Eike Radewahn mehrere Versuche unternommen, über die Volksrepublik Bulgarien in die Türkei bzw. nach Griechenland zu fliehen. Nach einigen Tagen Haft wurde Radewahn in die rumänische Hauptstadt transportiert. Über ihren Rücktransport in die DDR per Flugzeug berichtet Radewahn selbst:
"Nach Verhören und Wechsel in eine andere Kaserne wurden wir mit dem Zug und unter großer Bewachung (und immer mit Handschellen) nach Bukarest gebracht. Vom Bahnhof zum Flughafen hatten wir kurzzeitig den Gedanken, aus dem fahrenden Auto zu springen und zu fliehen. Aber mit Handschellen war das einfach unmöglich.
Zuvor mussten wir auf dem Bukarester Hauptbahnhof einige Stunden warten. Wir wurden dort hin gebracht, wo Obdachlose, Straßenkinder und verwirrten Menschen von der rumänischen "Ordnungspolizei" misshandelt worden. Ich musste zu sehen, wie auf brutalste Weise, wehrlose alte Menschen und Kinder unvorstellbar geprügelt und gequält wurden. Ein Junge starb bei diesen
Angriffen. Er lag vor mir auf dem Boden. Als ich ihm helfen wollte, wurde ich verprügelt ...
Auf dem Bukarester Flughafen wurden wir in einen Raum gesperrt. Dort befanden sich drei dreckige, stinkende Betten mit noch schlimmer riechenden und vor Dreck stehenden Decken. Aus den Matratzen krochen kleine Tiere. Ein Waschbecken war verstopft und schwarz vor Dreck.
In diesem Raum mussten wir eine Woche aushalten.
Bevor wir nach Bukarest gebracht worden sind, hat man uns unsere Koffer, die sich noch im Hotel befanden, gegeben. Aus ihnen wurde fast alles gestohlen. Geld, Schmuck, Kleidung etc. fehlten. Etwas Geld hat man uns gelassen. Mit diesem Geld mussten wir unsere Bewacher auf dem Flughafen bestechen, um uns 1x mal am Tag zur Toilette zu lassen und uns etwas zu Essen und Trinken kaufen
zu können.
Irgendwann wurden wir von einem Flugzeug der DDR abgeholt. In ihnen saßen schon Menschen, die versucht hatten in Bulgarien zu flüchten. In Bukarest waren wir die einzigen, die noch dazu stiegen.
In Budapest und der CSSR wurden weitere gescheiterte Flüchtlinge dazu gebracht.
Ich sang das Lied ‚Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein ...' von Reinhard Mey.
Die weibliche Stasi-Bewachung forderte mich einige Male auf, dass zu unterlassen. Aber ich scherte mich nicht darum. Was konnte mir noch schlimmeres passieren? Aus Wut über meine Ungehorsamkeit schlug sie mich einige Male. Tränen liefen über mein Gesicht aber ich spürte nichts mehr. Mein Leben war zu Ende. Ich sang und summte weiter." (22)
Eike Radewahn wurde am 3. Mai 1985 vom Kreisgericht Potsdam wegen "Republikflucht" zu einer Haftstrafe von drei Jahren Gefängnis verurteilt, die sie im berüchtigten Frauen-Gefängnis Hoheneck verbüßen musste, bevor sie am 13. November 1985 in die Bundesrepublik Deutschland freigekauft wurde. Als straferschwerend sah es das Gericht unter Vorsitz des Potsdamer Kreisgerichtsdirektors Schröter an, dass es Radewahn auf dem Flughafen Bukarest gelang, Kontakt zu Bundesbürgern aufzunehmen, denen sie von der gescheiterten Flucht und über die unmenschlichen Haftbedingungen in Rumänien berichtete.
Heute lebt Eike Radewahn im Allgäu. Seit ihrer Haftentlassung war sie bisher insgesamt mehr als fünfundsechzig Monate arbeitsunfähig (krank) geschrieben. Inzwischen erhält sie eine kleine Rente, die jedoch für ein würdevolles Leben erheblich zu niedrig ist. (23) Auch nach fünfundzwanzig Jahren ist Eike Radewahn durch die damaligen Ereignisse in der Sozialistischen Republik Rumänien geprägt: "Ich möchte erzählen und mich mitteilen. Niemals darf das DDR-Unrecht in Vergessenheit geraten. Ich bin ein Teil der Geschichte. Niemals darf sich so etwas wiederholen. Freiheit soll und muss eine Selbstverständlichkeit bleiben. IMMER."

Der Fall Klaus Hoffmann: Spurlos verschwunden

Ganz anders gelagert ist der Fall des im September 1986 in Rumänien spurlos verschwundenen Klaus Hoffmann, der nach Aussage seiner Ehefrau schon lange über einen vermeintlich sicheren Fluchtweg in den Westen nachgedacht hatte. Hoffmann, am 26. Juni 1943 in Dresden geboren, war studierter Diplomingenieur im Bereich Bauwesen. "Meinen Mann belastete zunehmend die Mangelwirtschaft der DDR, wie sie sich in einem Baubetrieb besonders deutlich zeigte. (…) Aus dieser Situation heraus reifte im Kopf meines Mannes sein verhängnisvoller Plan: Flucht in die Bundesrepublik Deutschland über Rumänien nach Jugoslawien und dort in die Botschaft der BRD." (24)
Der 43jährige leidenschaftliche Bergsteiger plante - ebenso wie Eike Radewahn - in der Nähe des "Eisernen Tores" nachts die Donau zu durchschwimmen, berichtet Heidrun Hoffmann - die den Fluchtplan zuvor gemeinsam mit ihrem Mann entwickelt hatte: "Mein Mann war seit seiner Kindheit im Schwimmverein und damit ein trainierter Sportler." Hoffmann habe sich gründlich auf die geplante Flucht vorbereitet, einen Neopren-Anzug, Bleigürtel und Tauchmesser mit sich geführt und war - wie Heidrun Hoffmann unterstreicht - nach einem Jahr Vorbereitungstraining unbedingt fit, um die Herausforderung zu überstehen. "Mit viel innerer Unruhe und Besorgnis brachten mein Sohn und ich meinen Mann (…) zum Hauptbahnhof, wo er ca. 10.20 Uhr mit dem Zug Dresden verließ. Das Letzte, was wir von unserem Vater sahen, war sein winkender Arm aus dem Fenster. Noch heute kann ich nur schwer abfahrende Züge aushalten!" (25)
Am Abend desselben Tages begleiteten ihn Freunde im tschechischen Brno zum Zug nach Rumänien. Seit diesem Zeitpunkt hat seine Familie nie wieder etwas von ihm gehört und weiß bis heute nicht, was sich damals an der Donaugrenze ereignete: "Der dienstliche Austausch der Behörden der DDR mit Rumänien und z.T. auch Bulgarien war sehr langwierig und brachte kein Ergebnis. So gingen alle Nachforschungen ins Leere." (26)
Eine Recherche zum Fall Hoffmann in den Beständen der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin konnte keine neuen Erkenntnisse vermitteln. Dort ist lediglich eine einzige Karteikarte von Klaus Hoffmann vorhanden, auf deren Rückseite es in dürren Worten heißt: "30.09.86 Rumänienreise angetreten / seit dieser Zeit unbekannten Aufenthaltes". Es ist zu vermuten, dass Hoffmann bei seinem Fluchtversuch ertrank oder auf andere Weise getötet und irgendwo am Donau-Ufer angespült wurde. Angesichts der enormen Strömung des Flusses wäre dies sowohl in Rumänien, als auch in Jugoslawien oder Bulgarien denkbar. Damit wäre der Dresdener eines jener vielen "namenlosen" Opfer des Grenzflusses, die in zahlreichen anonymen Grabstätten in Ufernähe ihre letzte Ruhestätte fanden. (27)

Schlussbetrachtung

Wie bekannt der Fluchtweg Rumänien in der DDR gewesen ist, dass wird auch daraus ersichtlich, dass sich sogar der 22jährige Neffe vom Stasi-Vize Markus Wolf im Sommer 1981 dazu entschloss, über die Donau in den Westen zu gelangen. Der spontane Fluchtplan des Ostberliner Medizinstudenten scheiterte zwar und endete schließlich im Gefängnis, zeigt aber auch, dass sich mit der Donau in jenen Jahren bei vielen Menschen in Osteuropa - Rumänen, Tschechen, Ostdeutsche und Russen - die Hoffnung auf einen weniger gefährlichen Fluchtweg in den Westen verband. Es war eine trügerische Hoffnung, die viele Menschenleben gekostet hat.
Die Rekonstruktion der Verbrechen an der verlängerten Mauer ist ungeheuer schwierig und langwierig, da sie in erheblichem Maße davon abhängt, Einzelfallakten auszuwerten und zusätzlich zu den Täterakten auch einen direkten Kontakt zu den Opfern und ihren Angehörigen herzustellen. Diese Arbeit steht - speziell bezogen auf die Erforschung von Fluchtvorhaben von DDR-Bürgern an der Westgrenze der Sozialistischen Republik Rumänien - noch ganz am Anfang. Zusätzliche Schwierigkeiten bestehen auch darin, dass die Behörden in Bukarest und Sofia gleichermaßen ganz andere Vorstellungen von Aufarbeitung haben, als etwa deutsche Wissenschaftler. Der Verfasser hat sich insbesondere mit der Situation in Bulgarien vertraut gemacht. Dort wurden Anfragen zu Akten aus der Zeit der "Narodna Republika" zunächst bewusst in die Irre geleitet und später häufig ignoriert. Inzwischen gibt es in der Balkanrepublik eine neue Praxis. Der Zugang zu den wenigen offiziell vorhandenen Akten wird durch eine aufgeblähte Bürokratie derart erschwert, dass sie für Wissenschaftler und Opfer-Angehörige aus Deutschland praktisch unerreichbar sind. Vielfach wird die Existenz bestimmter Akten in Bulgarien bis heute sogar dann geleugnet, wenn sie durch intensive Recherchen auf inoffiziellen Wegen nachgewiesen werden können.
Ein Beauftragter der Bundesregierung, der u.a. in Bulgarien und Rumänien kurz nach der Wende im offiziellen Auftrag Nachforschungen über das Schicksal dort getöteter und verschwundener DDR-Bürger anstellen sollte, kam aus Rumänien gänzlich unverrichteter Dinge zurück, so dass das Land lange Zeit fälschlich als in diesem Zusammenhang "unbelastet" eingestuft wurde. Tatsächlich aber besteht ein erheblicher Aufklärungsbedarf. Es ist davon auszugehen, dass die weitere Auswertung einschlägiger Akten in Rumänien - ebenso wie bereits in Bulgarien, wo mittlerweile rund zwanzig Fälle bekannt sind - weitere Schicksale von bei ihrer Flucht getöteten jungen DDR-Bürgern ans Tageslicht bringen wird.

Fußnoten

1 So auch eine Aufstellung des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen (UfJ), Zonenflüchtlinge in "Ostblock"-Ländern festgenommen, in: Deutsche Fragen, Nr. 9, September 1968, S. 165, wo für 1962 - 1968 lediglich die Festnahme von 5 DDR-Flüchtlingen und 6 Fluchthelfern vermeldet, zugleich aber eingeschränkt wurde: "Die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge und Fluchthelfer liegt wesentlich höher."

2 Monika Tantzscher, die verlängerte Mauer, Berlin 1998

3 Johann Steiner / Doina Magheti, Die Gräber schweigen, Berichte von der blutigsten Grenze Europas, Troisdorf 2008

4 Georg Herbstritt, Über Rumänien in die Freiheit? Fluchtversuche von DDR-Bürgern über Rumänien in den Westen, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 2/2009, S. 5 - 14

5 Unterlagen zum Fall Werner Gambke (*23.11.1936), der im Juni 1965 an der griechischen Grenze bei einem Fluchtversuch von bulgarischen Grenzsoldaten erschossen und direkt im Grenzgebiet verscharrt wurde, im Privatarchiv des Verfassers

6 Stefan Timm, August 1968, unveröffentlichtes Manuskript, S. 9

7 Ebenda, S. 11 f.

8 MfS, BV Groß-Berlin, Abt. XX/6, Eröffnungsbericht v. 21.7.1965, Kopie im Privatarchiv Rothenbächer

9 Wulf Rothenbächer, Erinnerungen, unveröffentlichtes Manuskript (2010), S. 12

10 Zeugenvernehmung Wulf Rothenbächer, Aug. 1970, Kopie im Privatarchiv Rothenbächer. "Die Angabe, wir seien in Rumänien nicht vor Gericht gewesen, war eine unhaltbare Schutzbehauptung und flog noch am gleichen Tage oder am nächsten auf, da der Vernehmer den Fluchtort an der Grenze kannte (Gottlob). Das ist meines Erachtens für die Geschichte nicht erwähnenswert und gibt nicht die wirkliche Reaktion der Rumänen wieder. Wir wurden zu 3 Monaten Haft verurteilt. Die Untersuchungshaft wurde angerechnet. Danach wurden wir unter Milizbewachung in Zug zur Grenze eskortiert und nach Ungarn abgeschoben. Von da fuhren wir unbehelligt zurück nach Berlin-Ost." Wulf Rothenbächer, 14.12.2010 an den Verfasser

11 Vgl. ausführlich: MfS, BV Berlin, XV 1776/70, Ermittlungsverfahren gegen Wulf Rothenbächer, Archiv-Nr. 4042/72, Kopie im Privatarchiv Rothenbächer

12 "Die Gerichtsverhandlung war eine kurze Angelegenheit. Sie dauerte nicht einmal eine Stunde. (...) Bei der nichtöffentlichen Verhandlung - es waren nur gelesene Leute wie Stasi-Offiziersanwärter zugelassen - waren wir aber nicht reuig. Wir standen dazu, nicht in der DDR leben zu wollen, weil wir Gegner des Regimes seien. Heidi bekam zwei Jahre und neun Monate Haft aufgebrummt (...) und ich erhielt zwei Jahre und sechs Monate. Auf Anraten des Anwalts nahmen wir das Urteil an. Es war kurz und schmerzlich. Wir hatten damit gerechnet. Besser, als an der Grenze der DDR erschossen zu werden.", Rothenbächer, Erinnerungen (Anm. 9), S. 19

13 Dr. Wulf Rothenbächer wurde in der Bundesrepublik zu einem der namhaftesten Opponenten des SED-Regimes. Er stand jahrelang in der Führungsebene der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) und der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS).

14 Interview des Verfassers mit Maria Frank (Bad Düben), 27.06.2010

15 Hauptmann Fleischhauer, Bericht. Verdacht des Versuchs des ungesetzlichen Verlassens der DDR v. 24.11.1970, BSTU, MfS HA XX Nr. 9440

16 Botschaft der DDR in Sofia, Konsularabteilung, Aktenvermerk vom 23.10.1970, BSTU, MfS HA XX Nr. 9440

17 Interview des Verfassers mit Maria Frank (Bad Düben), 27.06.2010

18 Ebd.

19 Aktennotiz V 4 ZRS 88-24/72 vom 07.09.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand 83, Bd. 938

20 "Solchen Sendungen des BRD-Fernsehens, wie das 'ZDF-Magazin', Nachrichtensendungen 'Tagesschau' und 'heute', aber auch Sendungen des BRD-Rundfunks habe ich entnommen, dass es wiederholt DDR-Bürgern gelungen sein soll, vom sozialistischen Ausland aus illegal in die BRD zu gelangen". Zitiert nach: Vernehmungsprotokoll Eike Radewahn vom 11.01.1985, S. 3, BSTU, MfS, BV Potsdam, IV 1047/85

21 Zitiert: Fluchtbericht Eike Radewahn (Rammingen) vom 02.11.2009 an den Verfasser

22 Ebenda. - Über den Rücktransport von ostdeutschen "Republikflüchtlingen" aus Südosteuropa berichtete der Springer Inlandsdienst (ASD) bereits Anfang der 1980er Jahre: Mit Handschellen in der "Stasi-Airlines" - Ostberliner Sicherheitsdienst fesselt Gefangene auch während des Fluges, in: Berliner Morgenpost, 21.12.1980; Mit Sondermaschinen holt der SSD Flüchtlinge ab - DDR"-Häftling berichtet: Gefesselt nach Ost-Berlin, in: Berliner Morgenpost, 14.10.1981

23 "Der tägliche Kampf, die Wohnung, das Auto, die Versicherungen etc. nicht zu verlieren, verstärken meine Symptomatik zusätzlich. Nur die große Scham, nicht zur 'Tafel' zu gehen, um Essen für mich und meinen Hund zu holen, hält mich zurück. Meine sozialen Kontakte sind auf ein Minimum reduziert. Zwei Ehen wurden wegen meiner DDR-Vergangenheit und den damit verbundenen Problemen geschieden. Ich bin nicht in der Lage, soziale Kontakte aufrecht zu erhalten." Eike Radewahn, E-Mail an den Verfasser, 29.09.2009. - Das Folgende ebenda.

24 Heidrun Hoffmann, Bericht über die Flucht meines Mannes, Manuskript, April 2010, Archiv des Verfassers

25 Ebenda

26 Ebenda

27 Als "namensloses" Opfer muss auch weiterhin der Herbstritt (Anmerkung 4) als Opfer des rumänischen Grenzregimes bezeichnete Günther Lange betrachtet werden. Lt. Standesamt I in Berlin (zuständig für die Beurkundung von Auslandstodesfällen von DDR-Bürgern), Schreiben an den Verfasser vom 20.07.2010, ist Lange "in den Sterberegistern des Standesamtes I in Berlin nicht beurkundet". Weiter heißt es: "Eine gerichtliche Todeserklärung ist nicht zu ermitteln."

Dieser Beitrag wurde zuerst vom Deutschland-Archiv veröffentlicht.

Die Donau in Rumänien (Postkartenmotiv, 70er Jahre)

Die Donau in Rumänien. Ein häufig genutzter Fluchtweg in Richtung Jugoslawien.

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