Stefan Appelius


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Vier Stunden Protest

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Vier Stunden Protest
Vor 75 Jahren rebellierte die Marine

Von Stefan Appelius und Wolfgang Stelljes

"Die Schiffe mit den toten deutschen Soldaten, soweit diese ihr Grab nicht im Meer gefunden hatten, legen im Nordhafen von Wilhelmshaven an. Von dort wurden die Leichen mittels Pferdegespannen durch die Straße, in der wir wohnten, in die Exerzierhalle einer der Kasernen gebracht und zunächst dort aufgebahrt. Die Wagen fuhren den ganzen Tag über im Pendelverkehr vom Hafen zur Halle und wieder zurück, um sich mit neuer, grausiger Fracht zu versorgen." Dem kleinen Otto mit dem knurrenden Magen bietet sich Anfang Juni 1916 ein trauriges Schauspiel im Kriegshafen an der Jade. Hier ist der Mythos der ruhmreichen Seeschlacht am Skagerrak schnell verblaßt. Ähnlich tief hat sich der Steckrübenwinter in das Gedächtnis des Wilhelmshaveners Otto Oertel eingegraben: "Vorbei ist's mit den zwei Schnitten am Abend, von Butter ganz zu schweigen. Zu den Matrosen, die auf dem Kasernenhof vor seinem Fenster bei klirrender Kälte exerzieren, gehört Richard Stumpf.

Der Matrose auf SMS "Helgoland" notiert am Bußtag 1916 in sein Kriegstagebuch: "Ja, das Essen! Darüber ist diese Woche was geschimpft worden. Jeden Tag Zusammengehauenes, und dabei so dünn, so kraft- und geschmacklos gekocht, dass ich immer hungriger aufstand, als ich mich zu Tische setzte." Tagaus, tagein Dörrgemüse, Klippfisch oder Steckrüben. Und zwischendurch alten Schiffszwieback und Kohlrübenkaffee - das schlägt nicht nur auf den Magen, sondern auch auf die Moral. In der Offiziersmesse geht es derweil hoch her: "Da gab's Gänsebraten und die Sektpfropfen knallten."

"Gleiche Löhung, gleiches Essen, dann wäre der Krieg schon längst vergessen!" Der erste Protest eines Oberheizers, auf einer Holztafel im Maschinenraum von SMS "Oldenburg" hinterlassen, trägt dem Unzufriedenen neun Monate Gefängnis ein: "Wegen Erregung von Mißvergnügen."

Anfang 1917 geraten die Dinge in Fluß. Der Anstoß kommt von außen. In Russland stürzen kriegsmüde Soldaten den Zaren vom Thron. Die USA treten auf Seiten der Entente in den Krieg ein. Und in Berlin und Leipzig streiken im April die Munitionsarbeiter. Zur gleichen Zeit erklären sich Sozialdemokraten, die einen annexionslosen Frieden fordern, zur "Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei" (USPD). Ihnen geht es um eine rasche Beendigung des Krieges.

Die Matrosen und Heizer der Kaiserlichen Hochseeflotte erfahren von all dem aus der Zeitung. Nicht wenige bevorzugen den "Vorwärts" (SPD) oder die "Leipziger Volkszeitung" (USPD), deren Lektüre ihnen seit Jahresbeginn gestattet ist. An Bord hat sich wenig geändert. Unter Hinweis auf Krieg und Feind werden die Mannschaften an die Kandare genommen. Heizer müssen entwürdigende Reinlichkeitsmusterungen über sich ergehen lassen. Dabei ist den ölverschmierten Männern an den Feuerkesseln gerade erst die Seife rationiert worden.

Hans Beckers und Albin Köbis, beide seit kurzem Heizer auf SMS "Prinzregent Luitpold", vertreiben sich am ersten Sonntag im Juni die Zeit mit einem Gottesdienst. Ein durchaus ungewöhnliches Verhalten für praktizierende Freigeister. Der Abschlußraum eines Geschützes ersetzt die Kapelle. Kriegsflagge und Kruzifix sorgen für ein feierliches Ambiente. Das unchristliche "Gott strafe England", mit dem die Predigt schließt, klingt den beiden noch in den Ohren, während sie ihre wässrige Suppe löffeln. Der harte Zwieback, den sie in die Suppe stippen, war in der letzten Zeit oft von Maden durchsetzt. In diesen Tagen reift der Entschluss, sich nicht mehr alles auftischen zu lassen.

Am 6. Juni, einem Mittwoch, ist es soweit: 1.100 "Prinzregenter", allen voran die Heizer, weigern sich demonstrativ, das Essen abzuholen. Der erste Offizier, ein äußerst unangenehmer Mensch, tobt vor der versammelten Mannschaft, spricht von Patriotismus und dem Schmalhans, der auch in der Messe Küchenmeister sei: "Auch wir Offiziere müssen Steckrüben essen." Erregte Zurufe: Ja, so hätten die Matrosen sie auch gerne, vielleicht dreimal im Monat, doch in Butter gerührt sowie mit Gemüse und Fleisch. Als einer von fünf Gängen, zwischen Königinsuppe und Zigarre.

Matrose Reichpietsch, ein Packer aus Charlottenburg, bekommt von all dem nichts mit. Der 22jährige verläßt an diesem Tag für zwei Wochen das Flaggschiff "Friedrich der Große", um seine Eltern in Neukölln zu besuchen. Vor fast fünf Jahren hat Max Reichpietsch als Freiwilliger den Eid auf die Fahne abgelegt. Urlaub hat es seither nicht oft gegeben. Der Matrose zweiter Klasse - ein Mützenband darf er nach etlichen Disziplinarstrafen nicht mehr tragen - sucht kurz nach seiner Ankunft das Zentralbür der USPD am Schiffbauerdamm 21 auf. Dem Abgeordneten Wilhelm Dittmann kommen nicht zum ersten Mal Beschwerden von Feldgrauen zu Ohren, für die jedoch Fraktionskollege Vogtherr zuständig ist. Den Marineexperten trifft Reichpietsch einige Tage später im Zimmer 18 des Reichstags. An der Unterredung nehmen auch Dittmann und Parteichef Haase teil. Hugo Haase zeichnet Monate darauf im Reichstag das Bild eines frischen jungen Mannes, der über die Zustände, unter denen er und seine Kameraden litten, bittere Klage führte.

Auch Staatssekretär von Capelle, seines Zeichens Admiral, sieht Handlungsbedarf. Er verfügt am 20. Juni die Bildung von Menagekommissionen in der Hochseeflotte. Diese Einrichtung erlaubt bereits seit einiger Zeit dem einfachen Soldaten beim Heer Mitsprache und Kontrolle in Verpflegungsfragen. Max Reichpietsch und seine Kameraden entnehmen die Neuigkeit freudig überrascht dem "Wilhelmshavener Tageblatt". Nun endlich können sie den Proviantverschiebungen nachgehen, von denen man schon lange munkelt. Höhere Dienstgrade des Geschwaders ignorieren dergleichen gern.

Einfühlungsvermögen gehört ohnehin nicht zu den Stärken der im Kastendünkel verwurzelten Offiziere. Vor allem die jüngeren unter ihnen, gerade achtzehn und schon Leutnant, lehren mit schnarrender Stimme Vaterlandsliebe. Sie klimpern auf der Klaviatur des Kriegsrechts: Strafdienst - Bunker - Festung. Ein Soldat will zur Beerdigung seiner Mutter - abgelehnt. Ein Offizier will zu seinem kranken Kind - die ganze Division muss nachts aus der Hängematte, um ein Boot klarzumachen. Der Mensch fängt eben erst beim Leutnant an...

Die Menagekommissionen, kaum entstanden, werden mit Beschwerden aller Art überhäuft. Längst geht es nicht mehr allein um Verpflegungsfragen. Doch die Vertrauensmänner sind sich über ihre Rechte im Unklaren. Oberheizer Willy Sachse aus Leipzig nutzt seinen Urlaub für einen kurzen Abstecher nach Berlin. Von Wilhelm Dittmann will er erfahren, was es mit den Kommissionen auf sich hat. Das Gespräch zwischen Tür und Angel dauert nur einige Minuten. Mit der Mahnung, ja Vorsicht walten zu lassen, verabschiedet der Abgeordnete den Uniformierten.

Zum natürlichen Hunger tritt der nach Frieden. Im "Tivoli" und "Banter Schlüssel" diskutieren die Matrosen die Frage der Gewalt: Kann der Frieden auf friedlichem Wege erreicht werden? Köbis und Beckers, die beiden Heizer von SMS "Prinzregent Luitpold", sind überzeugt: "Wenn wir Mannschaften nicht mehr wollen, dann ist der Krieg zuende!" Mit Spannung verfolgen die Matrosen das Geschehen auf der politischen Bühne. In Berlin debattiert der Reichstag über Resolutionen der Anhänger eines Verständigungsfriedens: "Keine Annexionen, keine Kontributionen!"

Und in Stockholm wollen Sozialisten unterschiedlicher Couleur und Nationalität gemeinsam nach Wegen zur Beendigung des Blutvergießens suchen. Von diesen Vorhaben berichtet ein Torpedosoldat den Wilhelmshavenern im "Deutschen Haus". Der Redakteur der "Leipziger Volkszeitung" sollte eigentlich politisch kaltgestellt werden. Die Militärbehörde hatte ihn eingezogen. Diesem Umstand verdanken nun 150 aufmerksame Zuhörer einen inspirierenden Vortrag über die Stockholmer Friedenskonferenz. Tage später tauchen Unterschriftenlisten an Bord der Schiffe auf. Allein auf dem Linienschiff SMS "KÖnig Albert" setzen 400 Mann ihren Namen unter einen Text, der die Hoffnung auf ein baldiges Ende des "Völker- und Brudermords" spiegelt.

Anfang August 1917, zu Beginn des vierten Kriegsjahres, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Die dritte Heizerwache auf SMS "Prinzregent Luitpold" freut sich auf eine Kinovorführung. Doch aus der Freiwache wird nichts. Wachoffizier Hoffmann verordnet militärischen Strafdienst auf dem Exerzierplatz. "Wir fühlen die Absicht, uns zu schurigeln, deutlich heraus", schreibt Hans Beckers in seiner Autobiographie "Wie ich zum Tode verurteilt wurde". Die Willkür provoziert Widerspruch. 49 Heizer unternehmen einen spontanen "Ausflug". Erst zehn Tage zuvor hatten sich 240 Mann der SMS "Pillau", denen der versprochene Urlaub verweigert worden war, eigenmächtig an Land "verholt". Ganze drei Stunden Strafarbeit waren die Folge. Das ließe sich ja noch ertragen. Kaum wieder an Bord aber heißt es: "Kommandantenrapport." Ohne viel Federlesens werden elf Ausflügler herausgegriffen, zu Arrest verurteilt und degradiert. Ein Gedanke geht durch die Reihen: Schiere Willkür. Noch am Abend trifft sich Hans Beckers, einer der Elf und Mitglied der Menagekommission, mit anderen Vertrauensleuten in einem alten Eisenbahnwaggon auf der Werft. Nach einigem Hin und Her fällt ein folgenreicher Beschluss: Die gesamte Mannschaft verlässt am nächsten Tag das Schiff. Allerdings nicht länger als drei Stunden - denn das hieße Meuterei.

Am Morgen des 2. August 1917 verhängen Wolken den Himmel über der Jadestadt. An Bord herrscht Unruhe. Der wachhabende Offizier wird mißtrauisch und lässt das Fallreep sperren. Die Werftpolizei schließt das Tor. Doch die "Prinzregenter" lassen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Mit vereinten Kräften werden die Hindernisse auf dem Weg zum großen Exerzierplatz überwunden. Auf dem "Schleifstein" formieren sich die Protestler. Es beginnt zu regnen. Geschlossen marschieren die 600 außendeichs zum "Weißen Schwan". Dort, wo sonst die Combo zum Tanz aufspielt, verschafft sich nun Albin Köbis Gehör. Viele werden sich später nur noch an die letzten Worte seiner Rede erinnern: "Nieder mit dem Krieg!"

Gut gelaunt treten die "Prinzregenter" den Heimweg an. Wäre da nicht ein diensteifriger Wachtmeister. Er fuchtelt mit seiner Pistole herum - und hindert sie am Einhalten der Kriegsbereitschaft. Mit Siegerminen kehren sie nach gut vier Stunden an Bord zurück. Doch den Rebellen schwant: Da liegt was in der Luft. Vorsorglich informiert Beckers seine Kameraden auf SMS "Friedrich der Große": "Schiff läuft aus, wahrscheinlich unter Belagerungszustand. Wenn in drei Tagen keine Nachricht - dann los!" Beckers hofft auf einen Sympathiestreik.

Am Abend geht SMS "Prinzregent Luitpold" auf Schillig-Reede vor Anker. Längsseits macht ein kleiner Dampfer fest. Ein gutes Dutzend der Unruhestifter wechselt das Schiff. Im Militärgefängnis werden die Inhaftierten stundenlang verhört. Die Verpflegung ist hier besser als an Bord - ein schwacher Trost. Ahnungslos unterschreiben die Beschuldigten, was ihnen später gefährlich werden wird. Langsam dringt ins Bewußtsein der grade 20jährigen, was ihnen droht. Letzte Zweifel beseitigt Marine-Hilfskriegsgerichtsrat Dr. Dobring: "Ich kann Sie erhängen oder erschießen lassen." Für Dobring sind die Angeklagten Werkzeuge der USPD. Ein Exempel soll her.

Schon drei Wochen nach der Verhaftung tritt das Standgericht des Vierten Geschwaders zusammen. Umringt von militärischen Würdenträgern nehmen neun Matrosen auf der Anklagebank Platz. In der vorderen Reihe die "Haupträdelsführer": Beckers, Köbis, Reichpietsch, Sachse und Weber. In den Augen der Militärjustiz allesamt Anhänger der "Gewaltidee" und "Zentrale" einer verbotenen Organisation. Ihnen gegenüber, an der Fensterseite des Saales, thronen Offiziere hinter einem wuchtigen Richtertisch.

Willy Sachse, der jüngste Angeklagte, sagt zuerst aus. Mehr, als seinen Mitstreitern lieb ist. Um seinen Kopf zu retten, schlüpft Oberheizer Sachse in die Rolle des Kronzeugen. Beckers und Köbis, das seien die Väter der Streikidee.

Unruhe kommt auf, als die Anklage gegen Max Reichpietsch verlesen wird. Unerhört, sich als Soldat an linksstehende Parlamentarier zu wenden. Ob SPD, USPD oder Anarchisten - die Offiziere sehen keinen Unterschied. Sie haben offenkundig das Gespenst einer bolschewistischen Revolution vor Augen.

Nun wird Willy Weber, Oberheizer auf SMS "Friedrich der Große", aufgerufen. Zwar seit sieben Jahren Sozialdemokrat, aber von der gemäßigten Sorte. Er habe stets nur den "Vorwärts" gelesen. Köbis hält es nicht mehr auf der Bank: "Dieser Heuchler!"

Hans Beckers tritt vor. Er bestreitet, was sich bestreiten lässt. Und benennt Entlastungszeugen. Deren Vernehmung ist meist schnell beendet.

Als letzter der fünf Hauptangeklagten wird Albin Köbis vernommen. Er schweigt - im Bewußtsein, richtig gehandelt zu haben. Höchstens mal ein trotziger Zwischenruf: "Wir sind Sozialrevolutionäre!" Darüber freuen sich die Richter.

Der Auftritt von Kriegsgerichtsrat Dr. Dobring, wohl der schärfste der drei Ankläger, beginnt mit einer kurzen Verbeugung vor den Richtern. Aber dann: Annexionsloser Frieden, gar durch Gewalt erzwungen, das sei Ziel der Meuterer gewesen, und nichts anderes als vollendeter Kriegsverrat. Am liebsten sähe Dobring die Abgeordneten der USPD auf der Anklagebank. Nun muss er mit einfachen Matrosen vorlieb nehmen, die sich gegen Schinderei und schmale Kost auflehnen. Das seien ohnehin nur Vorwände. Dobrings Anklage lässt nichts Gutes erwarten.

Am 26. August, kaum mehr als 24 Stunden nach Beginn der Verhandlung, fällen drei Offiziere und zwei Juristen ihr Urteil, Wegen "vollendeter kriegsverräterischer Aufstandserregung" werden die fünf Hauptangeklagten zum Tode verurteilt. Im Falle von Sachse und Weber sprechen sich die Richter für eine Begnadigung aus. Beckers, Reichpietsch und Köbis allerdings hätten keine Nachsicht verdient. Minutenlanges Schweigen.

In der Todeszelle schreibt Max Reichpietsch einen Brief an seine Eltern. Sie sollen ein Gnadengesuch an den Kaiser auf den Weg bringen. Hans Beckers dagegen agiert geschickter. Der Heizer bekundet gehorsamst, "dass auch wir als Sozialdemokraten noch jederzeit bereit wären, eine zweite Skagerrakschlacht im selben Geiste zu schlagen, wie damals." Das Schreiben ist adressiert an " Herrn Scheer, Exzellenz, Ritter hoher Orden, Sieger der Skagerragschlacht!"

Die Schwere des Urteils überrascht selbst Oberkriegsgerichtsrat de Bary. Das Ganze sei "juristisch anfechtbar", heißt es in seinem Gutachten. Doch Flottenchef Scheer will die Bedenken seines Rechtsberaters nicht teilen und bestätigt am 3. September die Todesurteile gegen Reichpietsch und Köbis. Die Todesstrafe für Beckers wird vom offenbar geschmeichelten Admiral in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. Sachse und Weber kommen ebenfalls mit einer Zuchthausstrafe davon.

In Köln-Porz laufen derweil die Vorbereitungen für die Hinrichtung von Köbis und Reichpietsch. Schon Mitte August - also vor Prozessbeginn - hat Scheer dem Kommandanten des dortigen Truppenübungsplatzes bevorstehende Hinrichtungen angekündigt. Im Morgengrauen des 5. September 1917 nimmt eine Abteilung eines rheinischen Landsturmbataillons in zwei Zehnerreihen Aufstellung. Gut fünf Schritt entfernt werden Reichpietsch und Köbis, die am Abend zuvor unter strenger Bewachung eingetroffen sind, die Augen verbunden. Major Möhrs gibt das Kommando: "Präsentiert das Gewehr!" Um 7.03 Uhr fallen die Schüsse auf der Wahner Heide.

Zehn Tage später wird in Köln ein Brief an die Eltern von Max Reichpietsch aufgegeben. Es sind die Zeilen, die ihr Sohn in der Todeszelle schrieb, hoffend auf die Gnade des Kaisers. Ein Versehen - wird später das Reichsmarineamt vor einem Untersuchungsausschuss zu Protokoll geben: "Außerordentlich bedauernswert."

Die 124. Sitzung des Reichstags am 9. Oktober 1917 verläuft zunächst ruhig. Doch schon der erste Satz von Staatssekretär Capelle läßt die Abgeordneten aufhorchen: "Meine Herren, es ist leider eine traurige Tatsache, dass die russische Revolution auch einigen wenigen Leuten an Bord unserer Flotte die Köpfe verwirrt und revolutionäre Ideen bei ihnen großgezogen hat." Der Staatssekretär blickt vorwurfsvoll in Richtung der unabhängigen Sozialdemokraten. Pfui-Rufe rechts. Hugo Haase erinnert an die Hoffnungen, die die Februarrevolution bei den "nach Freiheit Lechzenden" geweckt habe. Der USPD-Vorsitzende nimmt die beiden Matrosen vor posthumen Anschuldigungen in Schutz. Und von einem Plan der USPD könne keine Rede sein. Schon jetzt wird in den Reihen der Vaterlandspartei - auch " Tirpitz- Kappesche-Kriegsverlängerungspartei" genannt - am " Dolchstoß" gestrickt. In diesen Tagen arbeitet Admiral Scheer an einer Denkschrift über die Vorgänge in der Flotte. Sein Fazit: Ein "erneutes Aufflackern" der "revolutionären Bewegung" sei nicht auszuschließen. Die Ereignisse der nächsten Monate geben ihm Recht.

Am 29. Oktober 1918 reißen die Heizer in Wilhelmshaven das Feuer unter den Kesseln weg und verhindern so ihren angeordneten Heldentod auf hoher See. Die Kaiserliche Marine, das "verhätschelte Schoßkind" des Monarchen, wird zum Geburtshelfer einer neuen Staatsform. Für Hans Beckers, den Gefangenen Nr. 110 in der Strafanstalt Celle, öffnen sich am 9. November 1918 die Kerkertore. Auch seine Kameraden werden von den revolutionären Matrosen befreit.

Die Ereignisse des Spätsommers 1917 bieten Stoff für Ernst Tollers Drama "Feuer unter den Kesseln" und Theodor Pliviers Roman "Des Kaisers Kulis". Die Nationalsozialisten bemühen sich, die Spuren von Reichpietsch und Köbis zu verwischen. Die beiden deutschen staaten pflegen einen höchst unterschiedlichen Umgang mit diesem Kapitel gemeinsamer Geschichte. Auf der einen Seite des Eisernen Vorhangs revolutionäre Helden, Namensgeber von Kriegsschiffen, Straßen und Brigaden, auf der anderen Seite dem Brockhaus keine Zeile wert. Noch 1963 liest man im Vorwort des "Handbuches der Deutschen Marinegeschichte" (West): "Der Flottenchef läßt das Urteil, nach sorgfältiger Prüfung der Rechtslage durch unabhängige Juristen an zwei Soldaten vollstrecken." In West-Berlin gibt es immerhin ein Reichpietsch-Ufer und eine Köbisstraße.

Und die Überlebenden? Hans Beckers spielt 1930 an Berliner Bühnen unter der Regie von Erwin Piscator seine eigene Rolle in "Des Kaisers Kulis". In seinen letzten Lebensjahren berät der pensionierte DGB-Archivar junge Kriegsdienstverweigerer. Im September 1971 stirbt Hans Beckers in Düsseldorf. Vier Wochen zuvor erliegt Willy Weber den Folgen eines Verkehrsunfalls. Der 79jährige lebte zurückgezogen in Bad Godesberg, wo er lange Jahre als Hausmeister tätig war.

Willy Sachse tritt 1920 der KPD bei. Unter einem Pseudonym veröffentlicht er bis zu einem Schreibverbot durch die NS-Reichsschrifttumskammer zahlreiche Abenteuerromane. Er schließt sich dem politischen Widerstand an. Am 21. August 1944 stirbt Sachse im Zuchthaus Brandenburg unter dem Fallbeil - abermals als "Landesverräter" verurteilt.


Dieser Beitrag wurde zuerst am 6. September 1992 im "Tagesspiegel" (Berlin) veröffentlicht.

Hans Beckers

Hans Beckers: Wie ich zum Tode verurteilt wurde
Brief BeckersWarum die Flotte zerbrachOtto OertelMathilde BeckersMathilde Beckers

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