Stefan Appelius


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Von Les Milles nach Auschwitz

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Von Les Milles nach Auschwitz

Von Stefan Appelius

An die Kollaboration des Pétain-Regimes mit den Nazis erinnert man sich in Frankreich nicht gern. Mit einer Gedenkstätte für Internierung und Deportation tut man sich schwer.

Eigentlich wollte André Fontaine über die Hugenotten schreiben. Doch dann machte er einen sensationellen Fund. In einer alten Ziegelei unweit der Cote d'Azur entdeckte der pensionierte Deutschlehrer ein ehemaliges französisches Internierungslager. Darin finden sich noch heute acht große, freskenähnliche Wandgemälde, die weder signiert noch datiert sind. "Die Überlebenden", sagt Fontaine, "betrachten die Malereien als Sinnbild des Exils, der Internierung und der Deportation."

Seinen Landsleuten ist André Fontaine suspekt. Das Buch "Le Camp d'étrangers des Milles 1939 - 1943" hat einen wunden Punkt getroffen: Ein "skandalöses Werk", in dem "eigene Phantasmen mit der Wirklichkeit" vermengt werden, urteilt Jacques Grandjonc von der Université de Provence in Marseille.

Die Kollaboration des Vichy-Regimes ist noch immer ein heikles Thema in Frankreich. Das musste auch Helmut Kohl erfahren, als er sich 1984 für eine Gedenkstätte in Les Milles einsetzte. Der Kanzler versprach Staatspräsident Mitterrand Geld für ein Museum. Geld von den Deutschen aber, das wollte man nicht. Ein Landrat stimmte für den Vorschlag. Das kostete ihn seinen Hut: "Wir lieben es in Frankreich nicht, zuviel über die negativen Aspekte unserer nationalen Vergangenheit zu wissen", erklärt Alfred Grosser.

Nach Kriegsausbruch 1939 begann in Frankreich die Internierung der Emigranten. Die Deutschen wurden als feindliche Ausländer behandelt. Mindestens 10.000 Menschen wurden durch die stillgelegte Ziegelei geschleust, darunter zahlreiche deutsche Intellektuelle, 80 Prozent von ihnen jüdischer Abstammung: Golo Mann, Lion Feuchtwanger (der 1940 in die USA floh und seine Erinnerungen an Les Milles in der Erzählung "Der Teufel in Frankreich" festhielt), Walter Benjamin (der sich nach gescheitertem Fluchtversuch das Leben nahm) und Walter Hasenclever (der sein Leben schon im Lager beendete).

Die Leidensgeschichte der Internierten begann am 22. Juni 1940. An diesem Tag wird im Wald von Compiégne der deutsch-französische Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet. In Artikel 14 hieß es, dass deutsche Emigranten in Frankreich dem NS-Regime "auf Verlangen" auszuliefern seien. Die Internierten in Les Milles drängten auf ihre Freilassung. Vergeblich. Dem legendären Varian Fry vom amerikanischen "Emergency Rescue Committee" und dem ausgebürgerten SPD-Sekretär Fritz Heine in Marseille gelang es dennoch. Für die meisten aber kam jede Hilfe zu spät.

Viele Flüchtlinge litten an Hunger und dadurch verursachten Krankheiten. Max Ernst notierte in sein Tagebuch: "Überall lagen zerbrochene Ziegelstein, überall Ziegelsteinstaub, sogar im kargen Essen, das uns zugeteilt wurde. Dieser rote Staub setzte sich in den Poren der Haut fest." Als Bett diente ein Bündel Stroh. Es war zugig, durch Fensteröffnungen wehte der Wind. Flöhe und Wanzen quälten die Internierten. Das Gebäude war völlig unbewohnbar. Rund 3.000 Lagerbewohner mussten sich einen Wasserhahn und vier primitive Klosetts teilen.

Vichy, Anfang Oktober 1940. Marschall Pétain lässt ein "Judenstatut" einführen. Schon am nächsten Tag folgt ein "Gesetz betreffend die ausländischen Juden": "Die Juden ausländischer Abstammung können in speziellen Lagern interniert werden." Alle Hoffnung der Flüchtlinge richtet sich auf die Vereinigten Staaten.

Mitte Juli 1942 wurde das Lager Les Milles von der SS in Augenschein genommen. Einige Tage später marschierten 200 Mann der französischen Staatspolizei durch das Lager. In ihren schwarzen Uniformen stellten sie für manchen Häftling "ein genaues Ebenbild der deutschen SS dar". Dann begann die Deportation: "Mit unbestimmtem Ziel." Bald aber war klar: Die Reise geht nach Auschwitz. Vichy-Frankreich wurde zum Komplizen der Nazis.

André Fontaine hat in seinem umstrittenen Buch Erinnerungen an diese Tage zusammengetragen: "Am Nachmittag des 10. August 1942 versuchten 15 Inhaftierte, Selbstmord zu begehen. Während des endlosen Appells der zum Abtransport bestimmten Häftlinge stehen alle im Hof. Sie sind der unerbittlichen Sonne ausgesetzt, und einige von ihnen erleiden Ohnmachtsanfälle." Nur einige wenige kamen zurück, "bestenfalls einige Dutzend", wird Claude Laharie viele Jahre später feststellen. Am 11. November 1942 rückte die deutsche Wehrmacht in die unbesetzte "freie Zone" vor. Bald darauf verließen die letzten Internierten das Lager. 76.000 Juden wurden während der Herrschaft Marschall Pétains den deutschen Gaskammern ausgeliefert, darunter der Frankfurter Warenhaus-Gründer Hermann Wronker und seine Frau Ida. Etwa 2.000 dieser Opfer kamen aus dem Lager Les Milles.

Unkel, Anfang Juli 1992. Der todkranke Willy Brandt erhält einen Brief von Francois Mitterrand. Innerhalb von zwei Jahren soll auf dem Gelände von Les Milles ein "Museum des deutschen Exils" entstehen. Doch davon ist man noch weit entfernt. Das "Staatssekretariat für ehemalige Frontkämpfer" hat die alte Ziegelei erworben und unter Denkmalschutz gestellt. Zerschlagene Fensterscheiben wurden ersetzt, die Wandbilder aber noch nicht restauriert. Jetzt bemüht sich Fontaine um die Gründung eines "Internationalen Komitees der Wahrheit für Les Milles". Die alte Ziegelei bietet alle Voraussetzungen, zu einer europäischen Gedenkstätte der Internierung und Deportation zu werden.

Dieser Beitrag wurde in leicht geänderter Form am 8. September 1993 in der "Leipziger Volkszeitung" veröffentlicht.

André Fontaine

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