Stefan Appelius


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Wera und Rolf

Politisches Lernen > DDR

Wera und Rolf
Die deutsch-deutsche Geschichte
einer tödlichen Flucht


Von Stefan Appelius

An der bulgarisch-jugoslawischen Grenze, am späten Abend des 23. August 1972, unweit des Grenzübergangs Kalotina, an der viel befahrenen Europastraße E 80 55. Es ist bereits dunkel. In ein paar Tagen sollen in München die Olympischen Spiele eröffnet werden. Es ist der Abend, an dem Wera Sandner (26) aus Cottbus und ihr Verlobter Rolf Kühnle (32) aus Nürnberg sterben müssen. Was an diesem Abend geschah, darüber gibt nur ein schmales Schriftstück Aufschluss, geheim - nicht zur Veröffentlichung bestimmt, gut verwahrt im Auswärtigen Amt in Berlin. Es ist von einem Oberst Vladimir Georgiev Momtschilov verfasst, Staatsanwalt bei der Militärstaatsanwaltschaft in Sofia. Darin heißt es, übersetzt aus der bulgarischen Sprache:

"Gegen 22:30 Uhr hat der Grenzsoldat Petkov, der auf einem bestimmten Platz, zehn Meter vom Grenzkontrollstreifen entfernt, die Grenze bewachte, Schritte gehört und erkannt, dass ein Mensch zur Grenze kommt. Einige Sekunden später hat er gesehen, dass ein Mensch aus dem Wald trat, der sich in Richtung Grenzstreifen bewegte. Er hat aber nicht erkennen können, ob das ein Mann oder eine Frau ist. Das Waldende ist etwa fünfzehn Meter vom Grenzkontrollstreifen entfernt gewesen. Wegen der kurzen Entfernung zum Wald, der bis dahin den Grenzverletzer zum Grenzstreifen verdeckte, musste der Grenzsoldat sehr schnell handeln, um dem Grenzverletzer nicht zu gestatten, auf das fremde Territorium zu gelangen. Bei dieser Situation hat der Grenzsoldat laut ‚Halt' gerufen und mit seiner Maschinenpistole einige Warnschüsse in die Luft abgegeben. Der Grenzverletzer ist nicht stehen geblieben, sondern etwas nach links zum Waldende gegangen und [hat] sich weiterbewegt. Dann hat der Grenzsoldat wiederholt ‚Halt' gerufen und erneut einige Warnschüsse in die Luft abgegeben. Auch dieses Mal ist der Grenzverletzer nicht stehen geblieben, sondern in den Wald getreten und [hat] sich vom Blick des Soldaten versteckt. Nach diesem Ungehorsam hat der Grenzsoldat beschlossen, die Waffe richtig zu benutzen, da die reelle Gefahr bestand, dass der Grenzverletzer mit ein paar Sprüngen ins fremde Territorium flüchten könnte. Nach diesem Beschluss kam der Grenzsoldat näher zu der Stelle, wo sich der Grenzverletzer versteckt hatte und gab drei Salven mit der Maschinenpistole in seiner Richtung. Diese Schießerei gehört [sic!] kamen zum Grenzer der Streifenführer und noch ein Grenzsoldat. Sie wurden von ihm über die Lage informiert und der ankommende Grenzsoldat gab noch einige Salven in dieselbe Richtung in die der erste Grenzsoldat geschossen hat. Beide Grenzsoldaten haben also einige Salven aus ihren Maschinenpistolen in diese Richtung abgegeben, ohne eine menschliche Figur gesehen und ohne eine menschliche Stimme oder Stöhnen gehört zu haben. Nach dem Aufhören des Schießens kam zum Tatort die Alarmgruppe, die den Wald beleuchtete und in Richtung der Schießerei ging. Sie fand dort zwei Leichen, drei Meter voneinander entfernt. Die eine war eine Frau, die Hosen aus blauem Stoff trug, und die andere ein Mann." (1)

Wenige Tage später wird der Vorfall in der Bundesrepublik Deutschland bekannt. Er schlägt für ein paar Tage hohe Wellen, zumal in Bayern, der Heimat des jungen Mannes. Ein Liebespaar ist gemeinsam auf der Flucht erschossen worden, schreiben die Zeitungen in der Bundesrepublik. Sogar die „Tagesschau“ berichtet über den Vorfall. Ganz anders auf der anderen Seite der Mauer. In der DDR wird über den Tod des Paares kein Wort veröffentlicht.
In Weras Heimatort erscheint keine Todesanzeige, eine Trauerfeier findet nicht statt. Sie darf nicht stattfinden, dafür sorgt das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Bis heute lässt der Fall viele Fragen offen. Wie haben sich die junge Frau aus dem Osten und der junge Mann aus dem Westen über den Eisernen Vorhang hinweg kennengelernt? Wie kamen die Beziehung und der spätere Fluchtplan zustande? Warum liegen Weras sterbliche Überreste bis zum heutigen Tag in Bulgarien? Warum gelten Wera und Rolf bis heute in der Bundesrepublik nicht als Maueropfer? Vor allem aber: Was hat sich damals tatsächlich ereignet? Das soll im hier folgenden Text auf der Basis zahlreicher Dokumente aus mehreren Archiven und Befragungsprotokollen mit Zeitzeugen rekonstruiert werden.

Wera

Sie ist Mitte 20, sportlich, attraktiv, hat lange dunkle Haare und fährt morgens schon in aller Frühe mit ihrem kleinen Klappfahrrad ins Büro. Eine lebenslustige Frau, die gerne und oft Tanzen geht und sich am Wochenende in einem Zwei-Jahres-Lehrgang an der Volkshochschule zur Industriekauffrau ausbilden lässt, weil sie nicht immer Verwaltungsangestellte bleiben will. Sie lacht oft, kocht gerne und gut. Kinder hat sie noch keine – und seit einer Weile ist sie auch wieder solo.(2)

Wir befinden uns in Cottbus, einer aufstrebenden Bezirkshauptstadt in der DDR, die im Frühjahr 1971 auf dem besten Wege ist, zur Großstadt zu werden. Wera Sandner hat ein eigenes Zimmer in einer – heute würde man sagen – Frauen-Wohngemeinschaft. Damals in der DDR nannte sich das Zwischenbelegung, und zwar in einer Plattenbauwohnung.
Wenn es in der DDR je so etwas wie eine Aufbruchstimmung gegeben hat, dann konnte man sie wahrscheinlich in Cottbus spüren, jedenfalls wenn man in dieser Zeit beim „Textilkombinat Cottbus“ (TKC) beschäftigt war, einem der größten Arbeitgeber in der Stadt. Hier rühmte man sich der Verarbeitung von synthetischen Fasern auf Großrundstrickmaschinen und fühlte sich mit der dort entworfenen Produktpalette „Präsent 20“ technisch auf Augenhöhe mit dem Westen.

Ob sich Wera von der Euphorie anstecken lässt? Wohl eher nicht. Sie liebt modische Kleidung. Röcke, Hosen, Mäntel, Unterwäsche. Davon kann sie gar nicht genug bekommen. Ob diese Kleidung im Osten oder im Westen hergestellt wird, das ist ihr herzlich egal. Was kann sie dafür, dass die Qualität der im Osten hergestellten Textilien ziemlich schlecht ist? Wenn sie eine Möglichkeit hat, ein im Westen produziertes Kleidungsstück zu ergattern, kann man es schon bald maßgeschneidert an ihr bewundern.

Rückblende. Grenzen spielten im Leben von Wera Sandner eine große Rolle. Sie wuchs in Klingenthal auf, einem kleinen Städtchen im Vogtland, unmittelbar an der Grenze zwischen der DDR und der Tschechischen Republik (CSR). Geboren wurde Wera aber auf der anderen Seite des Zaunes. In Bublova, das damals noch Schwaderbach hieß und nach dem Zweiten Weltkrieg an die CSR gefallen ist. Hier stand Weras Elternhaus, in unmittelbarer Nähe des Grenzstreifens.

Im Juni 1946 musste ihre Familie dieses Haus verlassen – von einem Tag auf den anderen, pro Person nur mit so viel Gepäck, wie man gerade tragen konnte. Mehr war nicht erlaubt. In ihrem Lebenslauf nennt sie es „Auswanderung“,(3) doch in Wahrheit war es eine Vertreibung. Später wurde das Haus Nr. 405 von den tschechischen Behörden eingeebnet. Ihren leiblichen Vater hat Wera nie kennengelernt. Viel weiß man nicht über ihn: Er war ein Tscheche, sstammte angeblich aus Prag.

In Klingenthal, hat ihre Mutter, die Anna, den Kurt kennengelernt. Der war Bergmann von Beruf. Sie heirateten 1949 und Kurt wurde Weras Stiefvater. Das war 1952, etwa zur selben Zeit, als die Demarkationslinie zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland von der DDR zum ersten Mal ausgebaut wurde.

Wera wuchs in ganz einfachen Verhältnissen auf. Ihre Mutter war Näherin und arbeitete als Adlerstickerin. Die Nähmaschine stand in der Küche der kleinen Zwei-Raum-Wohnung. Hier ist Wera aufgewachsen, gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester.

Große Sprünge konnte sich die Familie nicht leisten, vom Wirtschaftswunder, wie drüben im Westen, keine Spur. Aber es störte sich niemand daran bei den Sandners. Ganz im Gegenteil. Kurt Sandner, der vom Bergbau zum „VEB Blechblasinstrumente Klingenthal“ wechselt, ist ein glühender Anhänger des „Arbeiter- und Bauernstaates“. 1959 wird er Mitglied der SED.(4)
Ein Zeitzeuge beschreibt ihn als kleinen, fast unscheinbaren Mann, der in Diskussionen groß auftrumpfte und stets auf Parteilinie lag. Auf Wera hat das nicht abgefärbt. Ihr Herz schlägt für Mode und Wintersport. Nehmen wir an, wir könnten sie fragen, ob sie sich auch für Politik interessiere. Die Antwort wäre ein klares „Nein“.

Rolf

Er ist Anfang 30, groß und schlank, mit akkurat geschnittenen kurzen Haaren. In seiner Freizeit trägt er am liebsten Anzüge, mit Krawatte. Vor ein paar Monaten hat Rolf Kühnle an der „Höheren Fachschule für Augenoptik“ in München seine Ausbildung als staatlich geprüfter Augen-optiker beendet. Er ist seit fünf Jahren verheiratet, wohnt mit seiner Frau in einem sehr angesagten Neubaugebiet am Rande von Nürnberg, interessiert sich für Fotografie, Fußball und Reisen. In ein paar Wochen will er mit seiner Frau nach Jugoslawien, mit dem Auto.

Rolf fährt gerne Auto, auch lange Strecken. Und er verbringt seine Ferien am liebsten in Osteuropa, schon seit Jahren. Nein, nicht, weil er sich für Politik interessiert. Weil man dort mit ein bisschen Westgeld richtig luxuriös leben kann. Das gefällt ihm, denn er ist ein sparsamer Mensch.(5)

Rolf Kühnle hat eine Menge Bekannte und Arbeitskollegen. Hat er auch richtige Freunde? Nein, da gibt es niemand. Nicht einen. Rolf ist ein Einzelgänger, das war er immer schon. Ob es daran liegt, dass er als Kind sehr häufig umgezogen ist? Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass er keine Geschwister hat und, immer dann, wenn es darauf ankam, ganz auf sich allein gestellt war. Das kann einen Menschen prägen. Rolf Kühnle hat es geprägt. Er lebt sozusagen in seiner eigenen Welt – und trifft seine Entscheidungen am liebsten ganz allein.

Rückblende. Rolfs Eltern gerieten immer wieder aneinander. Am Ende packte seine Mutter stets ihren Koffer und zog aus. Sie verließ ihren Mann, ein ums andere Mal, Jahr für Jahr. Zunächst schlüpfte sie bei ihren Eltern unter, später nahm sie sich eigene Wohnungen. Um dann irgendwann wieder zu ihrem Mann zurückzukehren und nach einer Weile zu erkennen, dass es auch diesmal nicht funktionierte. Gerhard Kühnle, als Pfarrerssohn in Stuttgart geboren, war schon 1930 als junger Mann in die NSDAP eingetreten.(6) Da ahnten erst wenige, was die Nationalsozialisten und ihr „Führer“ Adolf Hitler einmal anrichten würden. Im Vorjahr war Gerhard Kühnles großer Bruder mit dem Motorrad tödlich verunglückt.(7) Dann kam die Wirtschaftskrise und er selber fand – trotz Diplom – jahrelang keine Arbeit. Das war zermürbend und hinterließ Spuren.

Lisa war erst 19 Jahre alt, als sie Gerhard heiratete.(8) Eine Kaufmannstochter aus Nürnberg, bildhübsch und äußerst selbstbewusst. Wenn Gerhard glaubte, sie werde sich ihm unterordnen, schon weil er dreizehn Jahre älter war als sie und weil es doch in der Bibel heißt, das Weib sei ihrem eigenen Manne untertan, hatte er sich gründlich getäuscht. An Sturheit standen sich Gerhard und seine angetraute Lisa in nichts nach. Ob sie bei all ihrem Streit auch manchmal an ihren Sohn dachten? Wenig deutet darauf hin. Als seine Großeltern nicht mehr lebten, landete der kleine Rolfi mit zwölf Jahren zum ersten Mal im Städtischen Oberschülerheim in Dinkelsbühl.(9) Abgeschoben, so fühlte sich das an – und keine der vielen Tränen des kleinen Jungen konnte daran etwas ändern. Später, als Rolf schon ein Teenager war, haben sie eine Weile in Mönchengladbach zusammengelebt. Aber eine „richtige Familie“, von der Rolf immer geträumt hatte? Das waren die Kühnles nie.

Eine zufällige Begegnung in Prag

Am Montag, dem 30. August 1971, lernen sich Wera und Rolf in Prag kennen. Die Begegnung ereignet sich mittags, auf der Terrasse eines Restaurants. Rolf bittet Wera an seinen Tisch und ist, wie er seinem Begleiter später erzählt, ganz hingerissen von dem „sauberen Geschöpf“.(10) Echte Gefühle waren an jenem Tag bei Rolf aber wohl noch nicht im Spiel. Was niemand weiß: Vor etwas mehr als einer Woche hat ihn seine Frau verlassen und sofort durch ihren Anwalt die Scheidung eingereicht. Rolf ist völlig überrascht, glaubt, dass sie sich wieder „fangen“ und zu ihm zurückkehren werde. Ist seine Mutter nicht auch nach dem schlimmsten Streit immer zu seinem Vater zurückgekehrt?

Was aber führt Wera an jenem Tage in die tschechoslowakische Hauptstadt? Kurz gesagt: ein Auftrag des „Ministeriums für Staatssicherheit“ der DDR. Wera hatte sich zwei Wochen vor ihrer Begegnung mit Rolf, nämlich am 13. August 1971, als „Informelle Mitarbeiterin“ (IM) anwerben lassen.
In ihrer Verpflichtungserklärung heißt es: „Hiermit verpflichte ich mich [auf] freiwilliger Grundlage mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Ich bin belehrt worden, dass ich über diese gemeinsame Arbeit zu keiner Person sprechen darf. Das bezieht sich auch auf meine Angehörigen, Verwandten u. Bekannten. Meine Berichte und Mitteilungen […] werde ich mit dem Decknamen „Regina“ abzeichnen. Wera Sandner.“(11)

Wie konnte es dazu kommen? Wie wurde man in der DDR zum „IM“? Indem sich der Staatssicherheitsdienst von einer bestimmten Person aufgrund ihres Charakters, ihres Äußeren oder ihrer Funktion einen bestimmten Vorteil versprach.

Eine junge Frau, die kinderlos und ohne festen Partner lebte, war für das MfS grundsätzlich interessant, zumal, wenn sie gerne Menschen kennen lernte und vielleicht auch häufig wechselnde Beziehungen hatte. Solche Frauen konnten ganz gezielt auf Männer angesetzt werden, für die sich der ostdeutsche Geheimdienst interessierte.
Wie die Bezirksverwaltung Cottbus des MfS auf Wera Sandner aufmerksam wurde, lässt sich ganz präzise beantworten. Wera hatte sich mit einer Frau mittleren Alters angefreundet, die im gleichen Wohnblock lebte, und plauderte gelegentlich im Treppenhaus mit ihr. Der Lebensgefährte dieser Frau, ein Spitzel des MfS („IMS Bernd“), schnappte auf, dass Wera von einem Bekannten aus Westdeutschland „reichlich“ Geschenke erhalte und ein Treffen in Prag plane. Wörtlich heißt es dann: „Bei dem Bekannten handelt es sich offensichtlich um einen sehr vermögenden Mann, das geht aus ihren Ausführungen hervor. Die S. ist sehr anspruchsvoll, legt Wert auf Bekanntschaften, die über reichlich finanzielle Mittel verfügen. Sie hat ein sehr ansprechendes Äußeres, geht gut gekleidet, Alter 25 Jahre, sie ist ledig, Kinder keine. In letzter Zeit nehmen die Hausbesuche bzw. die Besuche bei den Bekannten zu. Von WD-Bekannten [westdeutschen Bekannten] wurde sie schon zur R-Flucht [=Republikflucht] angehalten bzw. unterbreitete man ihr Vor-schläge. Durch ihren großen Bekanntenkreis weiß sie aber, dass das bei manchen nicht geglückt ist und sie wird z.Z. noch davon abgehalten. Direktes Interesse besteht dafür durchaus. Die größten Chancen haben Männer mit PKW.“(12) Dieser Bericht landete durch Vermittlung von MfS-Oberleutnant Siegfried Jäger, einem früheren Nachbarn von Weras Bekannter, auf dem Schreibtisch des Chefs der Spionageabwehr in der Cottbusser Bezirksverwaltung des MfS, Major Fritz Koallick. Der war sofort interessiert, handelte es sich doch laut der ihm vorliegenden Informationen um „eine ledige Person ohne Anhang und mit gutem Aussehen“.(13) Drei Tage später, am 29. Juni 1971, übernahm Unterleutnant Hans Woithe den Fall.(14)

Unterleutnant Hans Woithe

Hans Woithe ist ein gelernter Tischler.(15) Er arbeitet schon seit mehr als zehn Jahren für den Staatssicherheitsdienst. Inzwischen ist er 47 Jahre alt. Die meisten seiner Kameraden sind in diesem Alter schon ziemlich weit oben auf der Karriereleiter. Da wäre er auch gern, stattdessen hat er immer noch den Dienstgrad eines Anfängers.

Besonders schmeichelhaft lesen sich seine bisherigen Beurteilungen nicht gerade. Seine Genossen kreideten ihm an, dass die Ergebnisse seiner Ermittlungen „sehr oft nicht der Wirklichkeit entsprechen.“(16) Seit 1963 ist er als verantwortlicher Sachbearbeiter der inneren Abwehr in erster Linie für die „Bekämpfung der Spionageangriffe des amerikanischen Geheimdienstes“ CIA zuständig. Sehr erfolgreich war er dabei allerdings nicht.
Was dazu führte, dass ihn einer seiner Chefs im letzten Jahr aus der operativen Arbeit herausnehmen und auf Dauer in den Innendienst versetzen wollte: „Ihm sind in der operativen Arbeit Grenzen gesetzt.“(17) Das konnte Woithe erst im letzten Augenblick abbiegen. Doch statt die Genossen von seinen verborgenen Qualitäten zu überzeugen, muss er sich ein paar Monate später sturzbetrunken im Dienstwagen erwischen lassen. Hätte er sich doch bloß nicht mit dem Volkspolizisten angelegt. Am Ende haben sie ihn auf Befehl von General Mielke wieder zum Unterleutnant degradiert, den Führerschein abgenommen und sogar vors Militärgericht gestellt. Jetzt darf er sich wirklich nichts mehr zu Schulden kommen lassen, sonst verliert er am Ende noch seine Arbeit. Der Druck ist offensichtlich: Egal, was ihm Major Koallick jetzt an neuen Aufträgen zuteilt, es sollte unbedingt ein Ergebnis dabei herauskommen.

Die Arbeit von Hans Woithe besteht zunächst darin, alle verfügbaren Informationen über Wera Sandner zu beschaffen. Die Schulzeugnisse, dienstliche Beurteilungen, die politische Einstellung ihrer Eltern. Einfach alles, was man über die junge Frau innerhalb kurzer Zeit in Erfahrung bringen kann.

Schon zwei Wochen später, am 12. Juli 1971, schlägt Woithe vor, man müsse sich mit Wera einmal in Ruhe unterhalten, um herauszufinden, ob sie bereit ist, die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes zu unterstützen. Als Treffpunkt schlägt er die HO-Gaststätte „Friedensgrenze“ in Bad Muskau vor, einem kleinen Städtchen an der polnischen Grenze. Der Gastwirt und seine Frau sind als „IM Schulze“ registriert. Sie haben ein separates Hinterzimmer gegen gutes Geld auf Dauer an die Stasi vermietet. „Es kommt darauf an, […] sie [Wera Sandner] von der Notwendigkeit der Verbindung zu uns zu überzeugen“,(18) schreibt Woithe in einem Bericht. Dann geht alles sehr schnell.

Anfang August 1971 erhält Wera in ihrem Büro den Anruf eines Mannes, der sich bei ihr als „Genosse Meißner“ vorstellt. Es ist Hans Woithe, dessen wahren Namen Wera niemals erfahren wird. Man möchte sich mit ihr über ihre Bekanntschaft zu einem gewissen westdeutschen Bürger unterhalten, von dem sie regelmäßig Geschenke erhalte.
„Wir würden Sie gerne mit dem Auto abholen“, sagt „Genosse Meißner“, um in Ruhe mit ihr darüber zu sprechen. Anfang August 1971 kommt dieses Treffen zustande. Wera spricht ganz offen zu den beiden Männern, nachdem sie erfährt, dass der Westdeutsche möglicherweise für einen gegnerischen Geheimdienst arbeite. Ja, sie sei zu einer Mitarbeit bereit, verspricht sie.(19) Selbstverständlich könne sie noch im August nach Prag fahren, dort werde sie den verdächtigen Westdeutschen dann genau unter die Lupe nehmen. Die beiden Offiziere des MfS sind zufrieden.

Als sie sich am späten Nachmittag des 13. August 1971 erneut mit Wera in Bad Muskau treffen, glaubt die junge Frau, es ginge bei der Abfassung ihrer Verpflichtungserklärung lediglich um eine einmalige Aktion. Sie freut sich sogar, hat sich ihre Reisepapiere schon bei der Volkspolizei abgeholt. Schließlich hatte sie gar nicht damit gerechnet, schon so bald wieder nach Prag reisen zu dürfen. Das hat sie „Genosse Meißner“ zu verdanken. Wie hat er es nur geschafft, dass sie Urlaub bekommen hat? Sie hat doch erst vor ein paar Tagen an ihrem neuen Arbeitsplatz angefangen. Und dann gleich für mehr als zwei Wochen. Das ist ein ganzer Jahresurlaub. Wera hält es für einen Glücksfall. Sie ahnt nicht, dass sie einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist.

„Genosse Meißner“ hingegen denkt schon über den Tag hinaus. In dem von ihm verfassten „Vorschlag zur Verpflichtung der Kandidatin“ erklärt er, wie es ihm gelungen ist, Wera zu manipulieren: „Durch ihr Alter bedingt lässt sie sich durch ältere Personen belehren und auch lenken u. leiten, d.h. sie ist leicht beeinflussbar. Einen stark ausgeprägten Willen hat sie nicht, was beim ersten Gespräch erkannt wurde.“(20) Wera soll zukünftig „Blickfeldarbeit“ für die Spionageabwehr leisten, schreibt Woithe.
Was man darunter zu verstehen hat? Dazu heißt es in seinem Bericht wörtlich: „Entsprechend dem Alter der Kandidatin ist vorgesehen, sie gerade an jüngere Personen anzusetzen, da in diesen Kreisen die Perspektive einer prophylaktischen Abwehrarbeit liegt. Bei einer qualifizierten Ausbildung und einem gewissen Stand der Qualifikation kann auch in Erwägung gezogen werden, sie in andere Städte oder Schwerpunkte zum Einsatz zu bringen. Die bereits bestehenden Kontakte zu WD Bürgern müssen systematisch ausgebaut werden, wobei bei ihr die Möglichkeit gegeben ist, sie für ausländische Monteure auszunutzen.“(21)

Ein verdächtiger Urlaubsflirt…

Aus den Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR ist ersichtlich, dass sich Wera nach der Erledigung ihres Auftrags noch für ein paar Tage in Prag aufgehalten hat. Der „verdächtige“ Westdeutsche, den sie auskundschaften sollte, ein junger Mann aus dem Raum Augsburg, war aus familiären Gründen vorzeitig in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Wera war nach seiner Abreise bei einem in Prag lebenden früheren Arbeitskollegen untergekommen. Sie liebte diese Stadt, war schon früher mehrmals über verlängerte Wochenenden hier gewesen. Das Zusammentreffen zwischen Wera und Rolf war ein Zufall, es hatte nichts mit dem Auftrag zu tun, den sie in Prag als Gegenleistung für die unverhoffte Ferienreise zu erfüllen hatte. Ganz offensichtlich sind sich Wera und Rolf von Anfang an sympathisch. Sie verbringen den ganzen Tag zusammen. Abends fragt sie ihn beim gemeinsamen Glas Wein in einer Bar, ob er nicht Lust habe, sie einmal in Ostberlin zu besuchen. Sie gibt ihm ihre Adresse und schreibt ihm auch die Telefonnummer ihrer Nachbarin auf. Der Nachbarin aus dem Wohnblock in der Hans-Beimler-Str. 5, deren Lebensgefährte schon seit vielen Jahren für die Staatssicherheit spioniert. Aber davon ahnt sie ja nichts. Es ist ein Urlaubsflirt, nicht mehr und nicht weniger. Wera nimmt die Bekanntschaft zunächst nicht sehr ernst. In dem nach ihrer Rückkehr für den Staatssicherheitsdienst verfassten handschriftlichen Reisebericht heißt es: „Nachdem wir also Wein getrunken hatten, sind wir uns persönlich näher gekommen und er hat sich in gewisser Hinsicht mir persönlich offenbart in gewissen privaten Fragen. Dabei konnte ich erfahren, dass er Geschäftsführer wird, in diesem Jahr noch, in München studiert hat und Verwandte in Wien hat. Auf meine persönliche Frage, ob er auch mal nach Berlin kommen würde, sagte er mir, dass es durchaus drin ist und er würde es sich auch gern einmal ansehen, den Aufbau usw. Wie ich aus seinen Ausführungen entnehmen konnte, das ergab sich auch aus dem Gespräch, ist er an einem Kontakt mit meiner Person interessiert. Das Alter dieses Herrn habe ich auf ca. 29 – 30 Jahre geschätzt. In Prag war er als Tourist und im persönlichen Gespräch ergab es sich, dass er mir erzählte, dass er einen Skoda hat. In Nürnberg sagte er, fahren so neun bis zehn solcher Wagen und er wird schon als roter Kommunist verschrien, weil er einen Skoda hat. Bei der Verabschiedung haben wir vereinbart, dass er aus Wien schreibt, keine Karte, worauf ich ihm antworten werde. Es ist abzuwarten, wie diese freundschaftliche Bekanntschaft sich weiter entwickelt.“ (22)

Unter normalen Umständen wäre diese Bekanntschaft mit größter Wahrscheinlichkeit im Sande verlaufen. Rolf war verheiratet, er hätte Wera bald vergessen. Und tatsächlich beschränkt er sich nach seiner Rückkehr aus Prag zunächst darauf, nur ein paar Postkarten an Wera zu schreiben. Schließlich glaubt er, dass seine Frau in absehbarer Zeit zu ihm zurückkehren werde. Womit er sich jedoch täuschte.

Damit ist erklärt, warum es mehrere Wochen dauert, bis Rolf Ende Oktober 1971 einen Besuch in Ostberlin ankündigt. Je offensichtlicher das Scheitern seiner Ehe wird, desto intensiver wirbt er um Wera. Seine Strategie, mit dem Schmerz der Trennung zu Recht zu kommen, ist denkbar einfach:

Rolf Kühnle möchte so schnell wie möglich eine neue Beziehung aufbauen. Wera, die schöne junge Frau aus der DDR, wird von Tag zu Tag wichtiger für ihn. Eines Tages sagt er seinem Chef, er glaube, die Frauen aus dem Osten hätten „mehr Flair“ als die Frauen im Westen. Rolf idealisiert Wera, baut ihre Fotos und Postkarten in seiner Wohnung „wie einen Altar“ auf, während die Scheidung von seiner Frau immer näher rückt. (23)
Für Unterleutnant Hans Woithe ist dieses Interesse des „westdeutschen Bürgers“ an Wera Sandner sehr verdächtig. Woithe weiß nichts über Kühnle, kennt dessen private Verhältnisse nicht. Sein Verdacht nährt sich ausschließlich aus Äußerlichkeiten: Je intensiver Rolf Kühnle in Briefen und Postkarten um Weras Zuneigung wirbt, desto misstrauischer wird der glücklose Unterleutnant von der ostdeutschen Spionageabwehr. Er hält Kühnle vermutlich für den Agenten eines westlichen Geheimdienstes. Da der Staatssicherheitsdienst nicht nur das Telefon von Weras Nachbarin, sondern seit ihrer „Verpflichtung“ auch Weras gesamte Post überwacht, ist er über die Entwicklung der Bekanntschaft genau im Bilde.

… wird zur grenzenlose Liebe

Als Wera Ende Oktober 1971 ein Telegramm von Rolf erhält, der seinen Besuch in Ostberlin ankündigt, ist der Staatssicherheitsdienst der DDR von Anfang an mit von der Partie. „Genosse Meißner“ erwartet von Wera, dass sie ihm nach ihrer Rückkehr in Cottbus genau über die Begegnung informiert. An ihrem Bericht ist ersichtlich, dass sie den Westdeutschen offenbar nicht für gefährlich hält: „Er fotografierte sehr viel Sehenswürdigkeiten von Berlin. Von meiner Person wollte er nur private Dinge wissen. Er fragte nicht nach Personen aus Cottbus u. erkundigte sich nicht nach meiner Arbeitsstelle. Mir persönlich berichtete er, dass er nur noch eine Mutter hat, eine eigene Wohnung besitzt und als Geschäftsführer arbeitet (Optikergeschäft). Er selbst trug eine neue Brille. Am 1.11. war ich gegen 20 Uhr wieder mit dem Zug in Cottbus. An persönlichen Geschenken habe ich zwei Pullover bekommen u. eine Strumpfhose sowie Wäschereien [= Unterwäsche].“ (24) Unterleutnant Woithe ist alarmiert, hat er doch zwischenzeitlich durch eine Bekannte von Wera, die unter dem Decknamen „Tanja“ für die Cottbusser Spionageabwehr spitzelt, erfahren, dass sich Wera in Rolf verliebt habe. (25) Das gefährdet seine Pläne mit ihr. „Genosse Meißner“ spricht Wera deshalb direkt auf seinen Verdacht an. Doch Woithe kommt nicht an Wera heran. Darüber heißt es in seinem Bericht:

„Der IM berichtete über seine Fahrt nach der Hauptstadt der DDR. […] Der IM ist noch nicht so weit, bzw. das Vertrauensverhältnis zum M.A. [= hauptamtlichen Mitarbeiter, Woithe] , dass er ungeschminkt alle peinlichen [= intimen] Vorkommnisse erzählt. Er deutet sie nur an. Bei konkreter Befragung äußert er [sic!] sich nur teilweise. Er [sic!] will den jetzigen Bekannten nicht heiraten. Da der IM aber sehr schnell beeinflussbar ist, besteht die Möglichkeit einer Kurzschlusshandlung (R-Flucht).“ (26)
Durch das gemeinsame Wochenende in Ostberlin hat sich das Verhältnis zwischen Wera und Rolf verändert. Aus der Bekanntschaft ist eine gegenseitige Liebesbeziehung geworden. Sie verabreden, dass sie sich schon Ende November erneut in Ostberlin für ein verlängertes Wochenende wiedersehen wollen. Wera informiert auch „Genosse Meißner“ darüber. Sie ist noch immer arglos. Wera glaubt, wenn „Meißner“ versteht, dass Rolf kein westlicher Spion ist, dürfe sie eine „private“ Beziehung mit ihm haben.

Diesmal will es Woithe besser machen. Er trifft sich am späten Nachmittag des 25. November 1971 in einer von seiner Dienststelle genutzten konspirativen Wohnung in einem Wohnblock gegenüber dem Cottbusser Krankenhaus erneut mit Wera. In seinem Bericht heißt es dazu: „Um zu wissen, wie eng diese Verbindung vom IM aufgefasst wird, wurde er danach gefragt. Der IM versicherte dem M.A. dass sie diese Verbindung nicht ernst nimmt u. auch nicht denkt, sich mit ihm zu verloben oder zu heiraten. Auf die Frage, [sic!] wie er so schreibt, antwortet der IM, dass er auf die Art und Weise der Liebesbeteuerungen sowieso nicht reinfällt und das von den Männern kennt. Der IM wurde gebeten zum nächsten Treff einen Brief u. ein Bild der WD-Person mitzubringen, mit der Begründung, dass der M.A. [= Woithe] den Kühnle mal kennen lernen will. Ohne zu zögern stimmte der IM diesem Vorschlag des M.A. zu.“ (27)

Wenn sich Woithe mit diesem derben Vorgehen versprach, zukünftig die Zügel in die Hand zu nehmen und den „IM Regina“ zu lenken, so täuschte sich der Unterleutnant aus Cottbus gewaltig. Inzwischen weiß Wera Sandner ziemlich genau, was „Genosse Meißner“ von ihr hören will. Sie fährt zwar mit dem hochtrabenden Auftrag, „die Persönlichkeit des Kühnle [zu] erforschen“ (28) nach Ostberlin, doch nur, um „Genosse Meißner“ nach ihrer Rückkehr erneut von der Harmlosigkeit ihres Freundes zu überzeugen. Diesmal muss sie dem „Genosse Meißner“ schon drei Tage nach Rolfs Abreise Bericht erstatten. Der fällt erneut denkbar knapp aus: „An beiden Tagen, als sie mit K. [Kühnle] zusammen war, gab es ihrer Meinung nach nichts, was auf eine bestimmte Absicht des K. schließen lässt. Er interessierte sich nur für ihre Person. Bekleidung hatte er dem IM wieder mitgebracht. Er ging auch nicht alleine wohin.“ (29)

Woithe ist beunruhigt. Erneut konfrontiert er Wera mit dem Inhalt von Briefen und Postkarten, die ihr Rolf nach Cottbus geschrieben hat. Noch einmal will er von ihr wissen, wie sie zu Rolf steht. Wera weicht dem Unterleutnant aus: „Sie versicherte wiederholt, dass ihrerseits keine festen Absichten bestehen und sie der Ausdrucksweise des K. [Kühnle] in den Briefen keine Bedeutung beimisst. Die Männer schreiben alle so, war ihre Redewendung.“ (30) Doch diesmal lässt sich Woithe mit weiblicher Raffinesse nicht mehr beruhigen.
Er geht dazu über, Wera ganz unverhohlen zu bedrohen, wie sich aus seinem „Treffbericht“ entnehmen lässt: „Der IM ist sich der Aussichtslosigkeit einer eventuellen Verbindung bewusst, er [sic!] gibt sich damit zufrieden, dass K. [Kühnle] nach Berlin kommt und sie sich in der CSSR treffen. Sie lehnt auch die Version ab, dass, wenn er Pässe besorgen würde, sie nie die DDR verlassen würde [sic!]. Ihr sind die Schwierigkeiten einer Flucht bekannt und das Risiko, welches sie eingehen würde.“ (31)

Wera Sandner erlebte Anfang Dezember 1971 vermutlich ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits hatte sie sich in den jungen Nürnberger verliebt und sehnt sich danach, ihn über die Silvestertage in Prag wieder zu sehen. Andererseits hatte der „Genosse Meißner“ keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass man sie seitens seiner Dienststelle niemals in den Westen gehen lassen würde.

Ein Fluchtplan entsteht

Als sich Wera und Rolf Ende Dezember 1971 in Prag wieder sehen, ist Rolf fest entschlossen, Wera so bald wie möglich auf einem sicheren Weg zu sich in den Westen zu holen. Das hat er gegenüber Bekannten in Nürnberg schon zu diesem Zeitpunkt wiederholt verlauten lassen. Und auch Wera ist sich ihrer Gefühle für Rolf sicher.

Am Silvesterabend verlobt sich das Paar in Prag. Es gibt keinen Hinweis, dass Rolf zu irgendeinem Zeitpunkt die Möglichkeit einer Übersiedlung in die DDR erwogen haben könnte. Hingegen lässt sich aus Fotos in seinem Nachlass erkennen, dass er die österreichisch-tschechoslowakische Grenze erkundete.

Dabei ist er offenbar zu der Einschätzung gelangt, dass eine Überquerung dieser Sperranlagen zu gefährlich wäre. Aus demselben Grunde lehnt er auch eine Flucht über die Mauer ab. Einem Bekannten sagt er: „Über die innerdeutsche Grenze brauchen wir überhaupt nicht zu reden.“ (32) Kühnle will also offensichtlich jedes Risiko vermeiden. Warum er sich nicht an einen professionellen Fluchthelfer wendet, obwohl er finanziell mit seinem hohen Gehalt dazu ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, bleibt unklar. Möglicherweise einfach deshalb, weil er sich nach seinen vielen Reisen für einen Osteuropa-Kenner hielt und glaubte, die schwierige Aufgabe am besten alleine zu lösen. Wera liefert dem „Genossen Meißner“ auch diesmal nur einen sehr mageren Bericht, in dem es unter anderem heißt: „Von mir wollte er erstmalig wissen, als was ich arbeite (Sekretärin), sonst aber nichts, auch nichts über den Betrieb oder Cottbus. Alle Unkosten in Prag hat er bezahlt.“ (33) Sie berichtet dem Unterleutnant, dass sie in Cottbus mehrmals ausgegangen sei und eine neue Freundin kennengelernt habe.

Sie erwähnt auch eine neue Männerbekanntschaft und fügt hinzu, mit diesem Mann habe sie angeblich eine Nacht verbracht. Den Namen habe sie aber vergessen. Sie hat längst herausgefunden, dass sie den „Genossen Meißner“ mit der Preisgabe tatsächlicher oder erfundener Informationen über sexuelle Aktivitäten in gewisser Weise manipulieren bzw. ablenken kann.
In den folgenden Wochen geht Wera Sandner dazu über, den Unterleutnant so entgegenkommend wie möglich zu behandeln. Sie nimmt an mehreren Schulungen teil, in denen ihr Woithe die „Regeln der Konspiration“ beibringt. Und sie erklärt ihre Bereitschaft, im Bedarfsfall für einige Tage in Dresden und Leipzig „Aufträge“ auszuführen. Von Rolf ist in dieser Phase nur noch am Rande die Rede.

So entsteht ein kleiner Freiraum für das Paar. Sie treffen sich am 18. und 19. März 1972 auf der Leipziger Frühjahrsmesse. Rolf reist mit seinem Dienstwagen in die DDR, einem großen weißen Volvo. Schon in einer Woche will sich das Paar über die Osterferien in der CSSR wiedersehen. „Genosse Meißner“, der bisher von Wera über jede ihrer Begegnungen mit Rolf unterrichtet wurde, weiß davon nichts. Wera hat ihm bewusst die Unwahrheit gesagt, ihm erklärt, sie wolle über Ostern in Cottbus bleiben. (34) Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein offener Affront.

Als sie Anfang April nach Cottbus zurückkehrt, wird sie von Woithe zur Rede gestellt. Ihre Antwort ist mehr als bezeichnend. Zwar räumt sie die Reise sofort ein und teilt dem Unterleutnant auf Nachfrage auch mehrere konkrete Einzelheiten über den Reiseverlauf mit, fügt aber zugleich hinzu, dass sie nicht der Ansicht ist, dass diese Dinge den Staatssicherheitsdienst der DDR etwas angehen würden.

„Sie selbst sagte, dass es sich bei der Verbindung zu K. um eine ‚Liebesangelegenheit’ hat [sic!] u. alles privaten Charakter trägt“,(35) heißt es in dem von Woithe verfassten Treffbericht. Es ist eine klare Auflehnung. Sie hätte auch sagen können: Ihr habt nichts in meinem Privatleben zu suchen.
Offenbar hat sich das Paar während der gemeinsamen Osterferien auf einen Fluchtplan verständigt. Rolf, der inzwischen rechtskräftig von seiner Frau geschieden wurde, will Wera im August über die Volksrepublik Bulgarien in den Westen holen. Er kauft nach seiner Rückkehr nach Nürnberg ein Schlauchboot mit Außenbordmotor und erklärt einem Bekannten, er wolle mit Wera von Bulgarien aus nächtens in türkische Gewässer fahren und sein Auto in der Volksrepublik zurücklassen. „Dieser Plan stand absolut fest“,(36) erinnert sich ein Zeitzeuge. Von einer illegalen Überquerung der Landgrenze habe Kühnle nie gesprochen. Im Gegenteil: „Vor der Landgrenze hatte er Angst.“(37) Etwa zur gleichen Zeit beschafft sich Kühnle den Reisepass der Ehefrau eines Arbeitskollegen. In diesen Ausweis – der mit Wera etwa gleichaltrigen Frau – fügt er deren Passfoto und einen selbst angefertigten bulgarischen Einreisestempel ein. Wie so etwas aussieht, hat er bei einer Kurzreise nach Bulgarien herausgefunden. Es ist ein zeitraubendes und äußerst kostspieliges Vorhaben, bei dem sich Rolf von niemand helfen lässt. Schlauchboot und Reisepass deuten darauf hin, dass sich das Paar einen „Plan B“ überlegt hat: entweder mit dem Boot über das Schwarze Meer oder – notfalls – mit dem Auto und gefälschten Papieren ganz offen über den Grenzübergang. Das birgt zwar die Gefahr einer Verhaftung in sich, ist aber nicht lebensgefährlich. Während Rolf in Nürnberg mit den Vorbereitungen beschäftigt ist, bucht Wera in Cottbus im „Deutschen Reisebüro der DDR“ eine Urlaubsreise nach Nessebar – einen Badeort an der südbulgarischen Schwarzmeerküste.

Täuschungsmanöver

Zum Fluchtplan gehört auch, dass Wera in ihrem Bekanntenkreis erzählt, sie habe sich mit Rolf verkracht und dieser werde seine Sommerferien nicht in Bulgarien, sondern in Spanien verbringen. Es ist ein geschicktes Manöver und es scheint zunächst auch zu funktionieren.

Durch einen Spitzelbericht von „IM Tanja“ erfährt Woithe außerdem, dass Wera gar nicht unter der angeblichen Trennung von Rolf leide, weil sie sich in Cottbus in einen DDR-Bürger verliebt habe. (39) Doch Woithe lässt sich nicht täuschen. Die über Wera verhängte Postkontrolle zeigt ihm, dass die Beziehung zwischen den beiden unverändert besteht. Kühnle schreibt „sehr intensive Liebesbriefe“ und macht auch Anspielungen, die auf einen möglichen Fluchtplan hindeuten.

Woithe schätzt die Situation für so gefährlich ein, dass er Wera, trotz deren unmittelbar bevorstehender Abschlussprüfung als Industriekauffrau kurzfristig zu einem Gespräch auffordert. Daran nimmt auch sein Vorgesetzter, der 34jährige Oberleutnant Manfred Ebel, teil. Woithe notiert über das Gespräch: „Der IM beteuerte, das er nicht daran denkt den K. [Kühnle] zu heiraten u. nur wegen der Geschenke u. den schönen Reisen u. Urlaubstagen die Verbindung hält. Sie hat persönliche Vorteile, die sie nicht missen möchte. Dem IM wurde aufgezeigt welche Folgen für sie entstehen können, falls sie durch K. zu einer unbedachten Handlung verleitet wird. Ihr wurde in diesem Zusammenhang einiges über die Sicherung der Grenzen unseres Lagers gesagt. Dem IM war klar, dass eine Verbindung zwischen ihr und dem K. [Kühnle] z.Zt. nicht möglich ist. Sie trägt sich auch generell nicht mit Heiratsgedanken da sie noch jung ist u. durch die Qualifikation auch mehr verdienen wird.“ (40)

Offensichtlich hat Rolf Kühnle die Postkontrolle des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes unterschätzt. Er glaubte, es genüge, die Briefe mit dem Absender eines mit ihm bekannten Ehepaares aus einer Nachbargemeinde zu versehen.(41) Dass die ostdeutsche Staatssicherheit im Rahmen einer über eine bestimmte Person verhängten Postkontrolle sämtliche Briefe las, die diese Person erhielt, konnte er sich offenbar nicht vorstellen. Wera begann hingegen spätestens jetzt zu ahnen, wie der Staatssicherheitsdienst arbeitete. Sie bat einen Bekannten, ihre Briefe an Rolf in Polen und in der CSSR einzuwerfen.(42) Sie wusste nicht, dass auch sämtliche Briefe mit ostdeutschen Absendern, die an Adressen in Westdeutschland gerichtet waren, von den Geheimdiensten der „Bruderländer“ im Rahmen gegenseitiger Vereinbarungen grundsätzlich dem MfS zur Verfügung gestellt wurden.
Im Anschluss an das Treffen mit Woithe und Ebel weist Weras bis dahin recht akribisch geführte Akte ein auffälliges „Loch“ auf.

Im Zeitraum von Mitte Mai bis Anfang August 1972 gibt es keinen einzigen Treffbericht. Es hat den Anschein, als ob die Akte in diesem Zeitraum nicht vollständig ist, bzw. nachträglich bereinigt wurde. Ganz offensichtlich hat sich Wera verdächtig gemacht.
Dieser Eindruck wird auch dadurch bestärkt, dass die Cottbusser Spionageabwehr im Juni mehrere Tage lang einen ihrer erfolgreichsten Spitzel auf Wera ansetzt. Dabei handelt es sich um einen Mann Anfang Dreißig, geschieden, der nach außen hin als DTSB-Sportlehrer für Kinder auftritt und von den Menschen, denen er begegnet, als gänzlich harmlos eingestuft wird. Er ist ein so genannter „Führungs-IM“ mit dem Decknamen „Germano“,(43) der ein ganzes Netz weiterer Spitzel anleitet und in späteren Jahren sogar zum hauptamtlichen Spitzel („H-IM“) aufsteigt. Doch auch „Germano“ gelingt es nicht, Wera aufs Glatteis zu führen. Sie erklärt ihm, sie habe die „Bekanntschaft“ mit ihrem „westdeutschen Bekannten“ abgebrochen, weil ihr dessen „charakterliche Eigenschaften“ nicht gefallen hätten.(44) Offenbar hat sie den Briefwechsel mit Rolf als Reaktion auf die Drohungen von Woithe und Ebel komplett abgebrochen: „In diesem Zusammenhang erzählte sie mir, dass man es bei uns [in der DDR] nicht allzu gerne sehe, dass man Briefverkehr oder Brieffreundschaften in Westdeutschland habe – sie möchte sich keine weiteren Schwierigkeiten bereiten.“(45) Ihre Ferien in der Volksrepublik Bulgarien werde sie alleine verbringen, erfährt „Germano“: „Namen nennt sie nie.“(46)

Das ist eine wichtige und zutreffende Beobachtung. Die Auswertung der Stasi-Akten zeigt, dass Wera Sandner in ihren Gesprächen mit dem „Genossen Meißner“ niemand willentlich oder wissentlich geschadet hat. Sie „vergisst“ regelmäßig Namen und Adressen und dort, wo sie Namen nennt, ist grundsätzlich nur wenig von ihr zu erfahren. Es ist auch hervorzuheben, dass sie im Gegensatz zur großen Mehrzahl anderer informeller Mitarbeiter vom Typ „Bernd“, „Tanja“ oder „Germano“, die im Laufe ihrer Zusammenarbeit mit erheblichen Summen bezahlt wurden, überhaupt kein Geld von der Stasi erhalten hat.

Je näher ihre Abreise nach Bulgarien heran rückt, desto stärker versucht Wera den „Genossen Meißner“ von ihrer angeblichen Loyalität zu überzeugen. Offenbar will sie auf diese Weise das Risiko einer Entdeckung ihres Fluchtplanes reduzieren. Sie geht eine Bekanntschaft mit einem französischen Ingenieur ein, mit dem sie in Senftenberg mehrere gemeinsame Wochenenden verbringt, über die sie den „Genossen Meißner“ unterrichtet.(47)

Eine Woche vor ihrem Abflug nach Bulgarien kommt es in dem von der Stasi angemieteten Hinterzimmer der Gastwirtschaft in Bad Muskau zu einer letzten Begegnung zwischen Wera Sandner und ihrem Führungsoffizier. Wera ist beunruhigt, dass sie ihre Reiseunterlagen noch nicht erhalten hat. Sie übergibt Woithe insgesamt vier Berichte, um ihn von ihrer Loyalität zu überzeugen. In einem dieser Berichte schildert sie auch ihre Bekanntschaft mit „Germano“, nicht ahnend, dass dieser gezielt auf sie angesetzt war.
Woithe doziert ihr über die angebliche Notwendigkeit einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit ihm und dass sie zukünftig keine „privaten“ Dinge mehr vor ihm verheimlichen dürfe. Wera gibt sie geläutert und verspricht alles so zu machen, wie es von ihr verlangt werde. Und dann macht sie ihrem Führungsoffizier ein bemerkenswertes Angebot: „Der IM fragte den M.A. [Woithe] ob die Möglichkeit besteht, im kommenden Jahr hauptamtlich bei uns [Ministerium für Staatssicherheit] zu arbeiten. Es wurden die Ka-dervoraussetzungen durchgesprochen u. festgestellt, dass beim IM die Möglichkeit vorhanden ist, wenn sie Genn. [Genossin, d.h. SED-Mitglied] wird. Der Verdienst des IM ist ca. 400,- M netto. Der IM hat Lust u. ist gewillt bei uns zu arbeiten, Versprechungen wurden keine gegeben.“(48) Tatsächlich ist die Mitgliedschaft in der SED eine Einstellungsvoraussetzung für alle Bewerberinnen und Bewerber, die hauptamtlich für das MfS tätig werden wollen, wie die Auswertung der Personalakten hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS zeigt. Aus einem der Berichte des „Germano“ weiß Woithe, dass Wera bisher nicht daran denkt, Mitglied der Staatspartei zu werden.(49)

Offenbar ist es Wera an diesem Tag gelungen, Woithe zu täuschen. Zum einen erwähnt er in seinem Treffbericht erstmals mit keinem Wort Rolf Kühnle, zum anderen zieht er offenbar tatsächlich eine hauptamtliche Mitarbeit von Wera in Betracht: „Es muss mit der Ltg [Leitung] geklärt werden welche Möglichkeiten der Arbeit für den IM bestehen u. wo er eingebaut werden soll. (Als Kader sind nur drei Personen aufzuklären). (Vater – Mutter, Schwester 9. Klasse) (Keine Westverwandtschaft).“(50)

Die Reise nach Bulgarien

Rolf Kühnle bricht bereits am Sonnabend, dem 12. August 1972 mit einem blauen Skoda von Nürnberg nach Bulgarien auf. Er hat ein Schlauchboot in seinem Gepäck und erklärt Bekannten, er werde sich die Olympischen Spiele in München gemeinsam mit seiner ostdeutschen Verlobten ansehen. Wera fliegt am späten Abend des 14. August 1972 mit einer Chartermaschine von Berlin-Schönefeld nach Bourgas in Bulgarien. Am Nachmittag dieses 14. August ereignet sich östlich von Berlin das schwerste Flugzeugunglück in der Geschichte der DDR. Eine Linienmaschine der „Interflug“ vom Typ „Iljuschin IL 62“ auf dem Weg nach Bul-garien stürzt kurz nach dem Start ab, wobei alle 156 Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben kommen. Aus den vorliegenden Reiseunterlagen ergibt sich, dass Wera mit dem Zug aus Cottbus nach Ostberlin reiste. Sie hatte ein Hotel der gehobenen „Kategorie I“ gebucht und wurde kurz nach Mitternacht mit einem Transferbus vom Flughafen nach Nessebar gebracht. Am Dienstag, dem 15. August 1972, erreichte Rolf Kühnle mit seinem Skoda aus Jugoslawien kommend die bulgarische Grenze und reiste am Grenzübergang „Kalotina“ in die Volksrepublik ein.

Über die jetzt folgenden Tage ist bisher fast gar nichts bekannt. Wera schreibt ihren Eltern am 15. August 1972 eine Postkarte:
„Viele liebe Grüße aus Nessebar sendet Euch Wera. Habe den Flug gut überstanden. Hotel ist prima, 50 m vom Strand. Das Barometer zeigt 35 Grad Celsius, hoffentlich bleibt es so. So eine Reise müsstet Ihr auch mal machen.“(51) Es ist ihr letztes Lebenszeichen. Ihre Familie weiß nichts von den Fluchtabsichten und hat auch keine Kenntnis von dem westdeutschen Verlobten.
Dafür ist der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst über ihr Eintreffen in Bulgarien unterrichtet. In der Volksrepublik ist schon seit Jahren eine so genannte „Operativgruppe“ des MfS stationiert, zu deren Aufgaben es zählt, Urlauber zu beobachten und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern. Dieser „Operativgruppe“ wurde die Ankunft von Wera Sandner mitgeteilt. Unterleutnant Woithe hat Wera nämlich mit einem „Komplexauftrag der Abt. VI“ nach Bulgarien geschickt. Das ist ein übliches Verfahren: Im Inland „bewährte“ IM reisen – häufig auch zur Belohnung – mit Spitzelaufträgen der Abteilung VI des MfS (Grenzkontrollen, Reise- und Touristenverkehr) in die „Bruderländer“, um dort während der Ferien Urlauber zu überwachen. Auffällig ist allerdings, dass der betreffende Komplexauftrag nicht in Weras Akte enthalten ist, obwohl Woithe dies in seinem „Treffbericht“ ausdrücklich vermerkt hat. Noch auffälliger ist, dass Weras gesamte Stasi-Akte eine Registrierung der Abteilung VI (Grenzkontrollen) trägt, obwohl sie für die Abteilung II (Spionageabwehr) tätig war. Daraus lässt sich schließen, dass die in Bulgarien stationierten Mitglieder der „Operativgruppe“ des MfS wie in solchen Fällen üblich mit Wera in Verbindung traten, nachdem diese dort eintraf. Möglicherweise lässt sich daraus auch schließen, dass ihre Akte nach Ihrem Tod noch einmal komplett neu angelegt wurde.

Inzwischen hatte aber auch Rolf Kühnle sein Reiseziel, den Badeort Nessebar, erreicht. Nach Angaben des Bulgarischen Staatssicherheitsdienstes wohnten beide gemeinsam zunächst in einem Hotel am Sonnenstrand und wechselten dann in ein Hotel in Nessebar. Es ist kaum anzunehmen, dass die „Operativgruppe“ mit ihrem weit verzweigten Spitzelnetz davon nicht innerhalb kürzester Zeit Kenntnis hatte, zumal die von westlichen Ausländern bewohnten Urlauberhotels an der bulgarischen Schwarzmeerküste auch systematisch abgehört wurden.

Nach der offiziellen Darstellung verließen Wera und Rolf am frühen Morgen des 23. August 1972 mit dem Skoda ihren Urlaubsort und durchquerten ganz Bulgarien. Am späten Abend des fraglichen Tages wurden sie angeblich in der Nähe der Grenzübergangsstelle Kalotina von einem Grenzsoldaten namens „Petkov“ bei einem Fluchtversuch erschossen.
Abgesehen davon, dass der Name „Petkov“ in Bulgarien etwa so selten ist, wie der Name „Müller“ in Deutschland, waren die Grenzer auch in der Volksrepublik Bulgarien grundsätzlich nicht einzeln postiert. Angeblich trug der im Gelände erfahrene frühere Soldat Rolf Kühnle zum Zeitpunkt seines Todes eine weiße (!) Sportjacke. Kaum glaubhaft ist auch die Darstellung, dass Kühnle einen mit einem Maschinengewehr bewaffneten Soldaten mit Erdklumpen beworfen habe, wie es wenige Tage nach dem Ereignis in einer vom bulgarischen Innenministerium herausgegebenen Wochenzeitung offiziös behauptet wurde.(52)

Und es ergeben sich noch weitere Fragen: Nach amtlichen Angaben aus Bulgarien war die Todesursache von Rolf Kühnle „Schusswunden im Magen“.(53) Wie ist ein solches Verletzungsmuster mit der Schilderung des angeblichen Tatablaufs in Übereinstimmung zu bringen? Was war mit ihrem Schlauchboot geschehen und warum haben sie nicht den aufwändig hergestellten falschen Pass („Plan B“) verwendet? Signifikant ist auch, dass die Leichen von Wera und Rolf nicht, wie bei Fluchten üblich, im Militärkrankenhaus in Sofia obduziert wurden, wie bei den Recherchen herauskam. Sie wurden auch nicht in einer Liste mit den Namen in Bulgarien getöteter deutscher Republikflüchtlinge aufgeführt, die von der bulgarischen Regierung kurz nach dem Fall der Mauer zusammengestellt wurde.

Wie man im Westen von dem Ereignis erfährt

Zwei Tage nach dem Tod des Paares, am Vormittag des 25. August 1972, informiert das Bulgarische Außenministerium die Handelsvertretung der Bundesrepublik Deutschland in Sofia, dass der Bundesbürger Rolf Kühnle bei einem Zwischenfall an der bulgarisch-jugoslawischen Grenze erschossen worden sei.
Sofort bemüht man sich in der Handelsvertretung, möglichst viele Einzelheiten über den Vorfall in Erfahrung zu bringen. Man erhält Einsicht in ein richterliches Protokoll. Am Samstag, dem 26. August 1972, um genau 11:58 Uhr deutscher Zeit, weiß man durch ein Fernschreiben aus Sofia auch im Auswärtigen Amt in Bonn Bescheid. In drei Stunden sollen in München die Olympischen Spiele eröffnet werden. Innerhalb kürzester Zeit sind die Kriminalpolizei in Nürnberg und das Landeskriminalamt in München eingeschaltet. Sie sollen Kontakt mit Rolfs Mutter aufnehmen, um diese vom Tod ihres Sohnes zu informieren. Die Beamten finden heraus, dass Lisa Kühnle für einige Tage nach Prag gereist ist. Dort, im sozialistischen Ausland, ist sie für die westdeutschen Behörden unerreichbar. Es vergehen mehrere Tage, bis sie nach Nürnberg zurückkehrt, wo sie am Dienstagnachmittag sofort nach ihrer Ankunft von Polizeibeamten aufgesucht wird. Am nächsten Tag, es ist der 30. August 1972, wird in Bonn eine Erklärung zu dem Vorfall veröffentlicht. Darin heißt es: „Die Bundesregierung verurteilt das Vorgehen der bulgarischen Grenzorgane, das zum tragischen Verlust von Menschenleben geführt hat, ein Verhalten, dass in seiner Schwere durch den Sachverhalt nicht gerechtfertigt ist. Die Bundesregierung erwartet, dass Vorkehrungen getroffen werden, die eine Wiederholung von derartig schweren Zwischenfällen verhindern, die zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Beziehungen zwischen beiden Ländern führen müssen.“(54) Verschiedene Radiosender und auch die „Tagesschau“ berichten über den Vorfall. Die Parteien in der Bundesrepublik nehmen Stellung. Der außenpolitische Experte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Werner Marx, erklärt in Bonn, der „Mord“ an den beiden deutschen Staatsangehörigen habe erneut deutlich gemacht, wie wenig das „Entspannungsgerede“ mit der Wirklichkeit übereinstimme.(55) Auch die Berliner SPD nimmt zu dem Vorfall Stellung: „Zwei junge Menschen wurden getötet, weil sie gemeinsam ein Leben in Freiheit anstrebten.“(56)

Inzwischen bemüht sich das Bayerische Innenministerium um die Rückführung der sterblichen Überreste von Rolf Kühnle, während die Bundesregierung hinter verschlossenen Türen einen diplomatischen Vertreter der Volksrepublik Bulgarien in das Auswärtige Amt einbestellt. Da es noch keine gegenseitigen diplomatischen Beziehungen gibt, handelt es sich nur um den Stellvertretenden Leiter der Bulgarischen Handelsvertretung in Frankfurt am Main. Staatssekretär Günther van Well erklärt dem Bulgaren, dass die Bundesregierung die Härte des Vorgehens nicht akzeptieren könne.

Wörtlich sagt Staatssekretär van Well: „Zweifellos gebe es in der Welt viele illegale Grenzübertretungen, ohne dass tödliche Schüsse abgegeben werden.“(57) Der Bulgare entgegnet, dass „der Grenzbeamte“ in „rechtmäßiger Weise“ eingeschritten sei.
Auch diese Darstellung wirft rückblickend Fragen auf. Die bulgarischen Grenzen wurden nämlich nicht von Beamten, sondern von Soldaten, häufig Wehrpflichtigen, bewacht. Falls an dem Vorfall tatsächlich Beamte beteiligt waren, dürfte es sich um Angehörige des Bulgarischen Staatssicherheitsdienstes gehandelt haben.

Nachdem die Leiche von Rolf Kühnle per Flugzeug am Abend des 2. September 1972 wieder in Nürnberg eingetroffen ist, findet seine Beerdigung bereits am Dienstag, dem 5. September 1972, statt. Die Presse berichtet mehrere Tage lang sehr ausführlich über das Ereignis und nimmt auch an der Trauerfeier auf dem Nürnberger Westfriedhof teil. Pfarrer Bernd Seufert erklärt in seiner Predigt, dass Wera und Rolf sterben mussten, weil sie sich liebten und fragt: „Wann werden Ost und West verstehen, dass der Mensch wichtiger ist als alle politischen Systeme?“(58)

Wie man im Osten von dem Ereignis erfährt

Die Öffentlichkeit in der DDR wurde überhaupt nicht über den Vorfall unterrichtet. Wera Sandner durfte nicht in der DDR beerdigt werden. Eine Trauerfeier durfte nicht stattfinden, eine Todesanzeige nicht veröffentlicht werden.

Doch beginnen wir der Reihe nach: Am Vormittag des 25. August 1972 informiert ein Mitarbeiter der „Operativgruppe“ des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes in Bulgarien das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in Ostberlin, dass eine namentlich nicht genannte DDR-Bürgerin in Bulgarien erschossen wurde. Drei Tage später, am Montag dem 28. August 1972, soll DDR-Konsul Dr. Peter Krause die Leiche von Wera Sandner bereits zur Beerdigung in Sofia freigegeben haben, wie man in der Handelsvertretung der Bundesrepublik Deutschland in Erfahrung bringt.(59)

Es ist offensichtlich nicht daran gedacht, die sterblichen Überreste der jungen Frau in die DDR zurückzuholen, denn zu diesem Zeitpunkt wissen Weras Familienangehörige noch nicht, was geschehen ist.

Erst am 29. August 1972 taucht der Name von Wera Sandner erstmals im Zusammenhang mit dem Grenzzwischenfall in einem ostdeutschen Dokument auf.
Nachdem das Fernsehen und das Radio in der Bundesrepublik über von Vorfall berichten und dabei auch erwähnen, dass eine DDR-Bürgerin namens Sandner aus Cottbus in Bulgarien getötet wurde, beginnt sich die Nachricht auch im Kreise der Freunde und Arbeitskollegen von Wera zu verbreiten, zumal diese nicht zum angegebenen Termin aus einem Urlaub nach Cottbus zurückgekehrt ist. Auf diese Weise erhält auch Weras Familie in Klingenthal Kenntnis von dem Ereignis. Weras Schwester wird am 31. August 1972 auf einem Jahrmarkt von einem Mitschüler angesprochen, der sie fragt, ob sie gehört habe, dass die Wera in Bulgarien erschossen worden sei. Das hatte der Jugendliche zuvor im Radiosender „Rias Berlin“ gehört.

Weras Eltern sind fassungslos, können es nicht glauben. Sie versuchen Wera in Cottbus zu erreichen, was nicht gelingt. Daraufhin wendet sich Kurt Sandner sofort an die „Abteilung Inneres“ beim Rat des Kreises in Klingenthal, doch niemand vermag ihm eine Auskunft zu geben.

Bereits am nächsten Tag, dem 1. September 1972, wird Wera auf dem Friedhof „Bakarena Fabrika“ in einem Vorort von Sofia beerdigt, während ihre Eltern in Klingenthal noch immer keinerlei offizielle Nachricht über den Vorfall erhalten haben.
Auch Journalisten des in West-Berlin erscheinenden „Tagesspiegel“ wollen herausfinden, was aus Weras Leiche geworden ist. Die Bulgaren verweigern ihnen die Auskunft, da es sich um eine „Staatsangehörige der DDR“ handele.(60)

Kurt Sandner will sich damit nicht zufrieden geben. Er nimmt sich frei und fährt mit dem Auto nach Ostberlin. Sandner wendet sich direkt an die Botschaft der Volksrepublik Bulgarien, wo er mündlich erfährt, dass seine Tochter „auf der Flucht erschossen“ und bereits in Bulgarien „verscharrt“ worden sei.(61) Ob er vorher auch in Cottbus war, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Sicher ist nur, dass Weras Zimmer in der Zwischenbelegung bereits vom Staatssicherheitsdienst durchsucht und anschließend versiegelt wurde. Bei dieser Durchsuchung wurden ohne Ausnahme sämtliche Schriftstücke und Dokumente, Briefe und Fotografien aus dem Zimmer entfernt, wie sich aus einer von Anni Sandner nach der Freigabe des Zimmers angefertigten Protokoll-Liste ergibt.(62)

Erst zehn Wochen später, Ende November 1972, erfahren Weras Eltern, wo man die junge Frau in Bulgarien beerdigt hat. Damit sind sie – ohne es zu wissen – gegenüber anderen Eltern ostdeutscher Opfer sogar noch im Vorteil, denn es war bis 1975 eine Praxis in der Volksrepublik Bulgarien, ostdeutsche „Grenzverletzer“ direkt im Grenzgebiet zu verscharren.
„Jetzt dürfen sie rüber: Die Bräute aus dem Osten“
Am 9. September 1972, anlässlich des Jahrestages der kommunistischen Machtergreifung, begnadigte das Regime in Sofia sechs deutsche Fluchthelfer. Diese Begnadigung kann als eine Geste des guten Willens gegenüber der Bundesrepublik interpretiert werden.

Ganz offensichtlich sollten die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, in erster Linie der Strom westdeutscher Urlauber mit ihren in der Volksrepublik hoch willkommenen Devisen, nicht gefährdet werden. Es galt, die Tötung von Wera Sandner und Rolf Kühnle so rasch wie möglich vergessen zu machen. Daran war auch das SED-Regime interessiert, nachdem die Hamburger Illustrierte „Der Stern“ die Geschichte von Wera und Rolf einige Wochen nach dem Vorfall, Ende September 1972, auf mehreren Seiten erzählte und für zusätzliche Publizität sorgte.(63)

Vermutlich befürchtete man in Ostberlin, durch den Vorfall unfreiwillig Wahlhilfe für die CDU/CSU geleistet zu haben. Im November 1972 standen die vorgezogenen Neuwahlen zum Deutschen Bundestag bevor. Um den Vorfall vergessen und die Früchte der deutsch-deutschen Entspannungspolitik sichtbar zu machen, verkündete das SED-Regime im Oktober 1972, dass die DDR als „Geste des guten Willens“ fünfundzwanzig ostdeutsche Frauen zu ihren Verlobten nach Westdeutschland ausreisen lassen wolle. Auch diesmal berichtete die Hamburger Illustrierte „Der Stern“ sehr ausführlich. In einer reich illustrierten Titelgeschichte („Jetzt dürfen sie rüber: Die Bräute aus dem Osten“) erklärte Egon Franke (SPD), der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen euphorisch: „Meiner Ansicht nach ist dies eine großzügige Leistung der DDR, die großzügigere Lösungen in der Zukunft erwarten lässt.“(64) Davon aber konnte keine Rede sein: Tatsächlich kam es – abgesehen von diesem Ostberliner Wahlgeschenk für die sozialliberale Koalition – bis zum Fall der Mauer im Herbst 1989 nie wieder zu einer vergleichbaren Aktion der DDR-Regierung. Im Gegenteil. Ab 1976 verweigerte die DDR für einzelne Personen die Einreise in die DDR. Besonders betroffen waren Personen mit Verlobten oder Angehörigen in der DDR, die nach Westdeutschland übersiedeln wollten.(65)

Einsam und verlassen in fremder Erde

Im Herbst 1972 entsteht über die Mauer hinweg eine Verbindung zwischen Weras Eltern in Klingenthal und Rolfs Mutter in Nürnberg. Lisa Kühnle erfährt, dass die DDR-Behörden eine Überführung der sterblichen Überreste von Wera in die DDR verboten haben. In ihrem gemeinsamen Schmerz beschließen sie, die bulgarischen Behörden zu bitten, Weras Leiche in die Bundesrepublik auszufliegen. In einer Petition an das Auswärtige Amt in Bonn schreibt Lisa Kühnle: „Während ich meinen toten Sohn nach Nürnberg überführen durfte, ist es mir bisher noch nicht gelungen, auch die Leiche seiner Braut nach Nürnberg zu bringen. Da es nicht nur mein Wunsch ist, die Kinder im Tode vereint zu wissen, sondern auch der ausdrückliche Wunsch von Weras Mutter, Frau Anni Sandner aus Klingenthal [...], spreche ich, zugleich in ihrem Namen, die Bitte aus und stelle den Antrag doch alles Menschenmögliche zu unternehmen, dass wir die tote Wera hierher überführen dürfen und neben meinem Sohn im Nürnberger St. Johannis Friedhof bestatten dürfen. Der große Schmerz von uns Müttern, der ein Leben lang fortdauern wird, wäre etwas gemildert, wenn wir unsere Kinder beisammen wüssten. Weras Grab, einsam und verlassen in fremder Erde, ist eine schwere Last. Ob wir Weras Leiche oder eventl. Urne bekommen, ob Flug- oder Kurierpost, ist unwichtig, wichtig allein ist, dass wir sie hier zur letzten Ruhe betten können. [...] Bitte helfen Sie uns und behandeln Sie unseren Antrag wohlwollend.“(66)

Doch die Bundesregierung vermag diese Entscheidung nicht herbeizuführen, obwohl sich der Leiter der bundesdeutschen Handelsvertretung in Sofia, Kaiser, persönlich dafür einsetzt. Nach wochenlangen Bemühungen telegrafiert er nach Bonn:

„Einem Mitarbeiter der Handelsvertretung wurde bei einer Rücksprache in der Konsularabteilung des hiesigen Außenministeriums auf unsere Bitte um Freigabe der Leiche von Wera Sandner erklärt, das Einverständnis der Eltern der Verstorbenen sei hierfür und für die Überführung in die BRD nicht ausreichend. Hierzu sei vielmehr eine Genehmigung der DDR-Behörden erforderlich, die seinerzeit die Beerdigung in Bulgarien verlangt hätten (!). Die Eltern der Verstorbenen müssten deshalb einen entsprechenden Antrag in der DDR stellen.
Im Falle einer positiven Entscheidung würden die dortigen Behörden die bulgarische Seite über die hiesige DDR-Botschaft verständigen. Ein anderer Weg sei leider ausgeschlossen. Der Einwand, dass die Handelsvertretung nicht verstehen könne, warum für die Freigabe der Leiche und deren Überführung in die Bundesrepublik eine Genehmigung der Behörden der DDR erforderlich sei, da sich die Leiche auf bulgarischem Territorium befinde und die Eltern zugestimmt hätten, war dem bulgarischen Gesprächspartner offensichtlich peinlich. Er erklärte, er habe sich persönlich um die Angelegenheit gekümmert und übersehe auch nicht ihren humanitären Aspekt. Leider könne er aber keine andere Auskunft geben. Es darf als sicher angenommen werden, dass die hiesige DDR-Botschaft einer Freigabe der Leiche widersprochen hat, und die Bulgaren sich diesem Einspruch beugen.“(67)

Rehabilitierung „nicht möglich“

Kurt Sandner hat sich mit dieser Entwicklung nie abfinden können. Er hatte nicht nur seine Tochter verloren, sondern auch den Glauben an die Gerechtigkeit im „Arbeiter- und Bauernstaat“. Am 31. August 1973 wurde er wegen „parteifeindlicher Handlungen und Verleumdung bulgarischer Klassengenossen“ aus der SED ausgeschlossen.(68)

Doch er gab die Hoffnung nie auf, glaubte nach dem Fall der Mauer, im Herbst 1989, jetzt werde man sich im Westen endlich der Sache annehmen: „Wir erheben hiermit Anklage gegen die Mörder unserer Tochter, welche mit 26 Jahren ihr Leben lassen musste, weil sie nichts weiter wollte, als mit dem Mann, den sie liebte, in seiner Heimat zu wohnen und zu leben. Wir fordern die Rehabilitierung unserer Tochter [...].“(69) Ein ganz einfaches, selbstverständliches Unterfangen? Nein. Eine Rehabilitierung der ostdeutschen Opfer der „verlängerten Mauer“ ist auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch nicht in Sicht. Den Standpunkt der Bundesregierung erläutert Lutz Diwell, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, in einem Schreiben an den FDP-Abgeordneten Hans-Joachim Otto: „Eine Rehabilitierung von DDR-Bürgern, die bei dem Versuch, über die Grenzen anderer Staaten des ehemaligen Ostblocks nach Westeuropa oder in die Bundesrepublik zu gelangen, erschossen wurden, ist nicht möglich.“(70) Maueropfer ist also nicht gleich Maueropfer. Und wie sieht es mit der Rückholung der Leiche von Wera Sandner in die Bundesrepublik aus? Nach dem Bundesgräbergesetz sind Gräber von Personen, die auf Grund von rechtsstaatswidrigen Maßnahmen als Opfer des kommunistischen Regimes ums Leben gekommen sind ebenso wie Kriegsgräber zu erhalten, um für zukünftige Generationen die Erinnerung daran wach zu halten, welche schrecklichen Folgen Gewaltherrschaft haben. Ein auf dieses Gesetz Bezug nehmender Antrag liegt der Bundesregierung seit Mai 2007 vor. Bisher hüllt man sich dazu in Schweigen. Die Aufarbeitung von DDR-Unrecht ist noch lange nicht abgeschlossen.


Fußnoten

*Die oftmals fehlerhafte Rechtschreibung entspricht der Originaltextlage.

1 Verordnung zur Einstellung der Voruntersuchungsakte Nr. 53/1972 vom 25.09.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

2 Persönlichkeitsbild nach Recherchen des Verfassers im Stadtarchiv Cottbus und in der Stadt Cottbus. Außerdem wurden persönliche Papiere von W. S. ausgewertet und Zeitzeugen befragt, darunter ihre Schwester, Freundinnen und Arbeitskollegen.

3 „Mit einem antifaschistischen Transport wanderten wir in die DDR aus“, schrieb Wera Sandner dazu in einem handschriftlichen Lebenslauf, o.J. [ca. 1966], in: Privatarchiv Appelius (Berlin)

4 Karteikarte Kurt Sandner, SED-BL K-M-S, IV C-2/4-651, in: Sächsisches Staatsarchiv (Chemnitz).

5 Persönlichkeitsbild nach Recherchen des Verfassers in der Stadt Nürnberg. Außerdem wurden persönliche Papiere von R.K. ausgewertet und Zeitzeugen befragt, darunter Arbeitskollegen und seine Ex-Frau.

6 NSDAP-Mitgliederkartei, Berlin Document Center, in: Bundesarchiv (Berlin-Lichterfelde); Entnazifizierungsakte Gerhard Kühnle, in: Landesarchiv Baden-Württemberg (Stuttgart).

7 Brief Landeskirchliches Archiv Stuttgart vom 16.06.2009 an den Verfasser, Privatarchiv Appelius (Berlin).

8 Angabe nach beglaubigter Abschrift aus dem Sterbebuch des Standesamtes Mönchengladbach-Mitte Nr. 993 vom 09.10.1964 (Gerhard Kühnle).

9 Rolf Kühnle lebte ab dem 15.02.1952 in Dinkelsbühl. Vgl.: E-Mail des Stadtarchiv Nürnberg vom 05.05.2009 betreffend Rolf und Elisabeth Kühnle (AZ: 412-47.23.00-2/3/6), Privatarchiv Appelius (Berlin).

10 W. Schmitt, Das Ende einer deutschen Liebe, in: „Der Stern“ Nr. 40 vom 24.09.1972, S. 56.

11 Verpflichtungserklärung vom 13.08.1971, in: MfS VI/1060/71, Bd. 1, BSTU (Berlin).

12 Bericht „IMS Bernd“ vom 26.06.1971, Kopie in MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

13 Aktennotiz vom 01.07.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

14 Suchauftrag vom 29.06.1971 betreffend Wera Sandner, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

15 Personalakte Hans Woithe, Cottbus KS II 205/85, in: BSTU (Berlin).

16 Beurteilung vom 05.12.1962, Cottbus KS II 205/85, in: BSTU (Berlin).

17 Aktennotiz vom 07.04.1970, Cottbus KS II 205/85, in: BSTU (Berlin).

18 Vorschlag für die Kontaktaufnahme, 12.07.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

19 Bericht über die Kontaktaufnahme, 06.08.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

20 Vorschlag zur Verpflichtung der Kandidatin, 03.09.1971, in: MfS VI/1060/71, Bd. 1, BSTU (Berlin).

21 Ebd.

22 Reisebericht von „IMS Regina“ vom 13.09.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

23 Mündliche Auskunft der Ex-Frau von Rolf Kühnle an den Verfasser.

24 Mündlicher Bericht „IMS Regina“, 09.11.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

25 Bericht „IMS Tanja“, 04.11.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

26 Treffbericht vom 18.11.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

27 Ebd.

28 Ebd.

29 Ebd.

30 Ebd.

31 Ebd.

32 Zeitzeugengespräch mit Georg Reinwald, 21.03.2007

33 Bericht „IMS Regina“, 20.01.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

34 Treffbericht vom 20.03.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

35 Treffbericht vom 19.04.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

36 Zeitzeugengespräch mit Georg Reinwald, 21.03.2007.

37 Ebd.

38 Beleg über den Abschluss der Auslandsreise Nr. 60-03-376 vom 13.04.1972 nach Nessebar, NL Wera Sandner, in: Privatarchiv Appelius (Berlin).

39 Bericht „IMS Tanja“, 11.05.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

40 Aussprachebericht vom 19.05.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

41 Zeitzeugengespräch mit Heinz Wyremba, 14.04.2007.

42 Zeitzeugengespräch mit Helmut Schulze, 03.07.2007.

43 „Germano“, geb. 1941 in einem Vorort von Cottbus, spionierte von 1971 bis 1989 in Cottbus für den Staatssicherheitsdienst der DDR, Abteilung Spionageabwehr. Er wurde bereits im April 1972 zum Führungs-IM umregistriert und hat im Laufe der Jahre mindestens 1.800 Seiten Berichte geliefert, die weitgehend vernichtet wurden. --- Er lehnt es ab, sich über seine damalige Tätigkeit zu äußern.

44 Ergänzungsbericht „FIM Germano“, 21.06.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin)

45 Ebd.

46 Ebd.

47 Tonbandbericht „IMS Regina“, verschriftlicht am 30.08.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin)

48 Treffbericht vom 09.08.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin)

49 „Sie ist parteilos und meinte, dass es nie passieren wird, dass sie Mitglied der SED wird, denn parteilos kommt man am besten weg.“ Bericht „F-IM Germano“, 19.06.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

50 Treffbericht vom 09.08.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

51 Postkarte Wera Sandner vom 15.08.1972 an Kurt Sandner, Privatarchiv Appelius (Berlin).

52 Eine Augustnacht ohne Morgendämmerung, „Antenni“ (Sofia), 01.09.1972.

53 Todesurkunde Nr. 925 für Rolf Kühnle, nach Angaben aus Aktenband 938 im Bestand B 83 zum Fall Kühnle/Sandner, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

54 Bundesregierung verurteilt Vorgehen der bulgarischen Grenzorgane, in: Bulletin des Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn, 05.09.1972.

55 Empörung über die Todesschüsse, in: Nürnberger Nachrichten, 01.09.1972, S. 25

56 Ebd.

57 Aktenband 938 im Bestand B 83 zum Fall Kühnle/Sandner, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

58 Zum Abschied ein Strauß roter Rosen, „Abendzeitung“ (Nürnberg), 06.09.1972, S. 1.

59 Aktenband 938 im Bestand B 83 zum Fall Kühnle/Sandner, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin). --- In einer Befragung durch den Verfasser erklärte Dr. Krause im Sommer 2006, er könne sich nicht mehr an den Vorgang erinnern.

60 Bulgarische Behörden gaben Leiche des erschossenen Nürnbergers frei, „Tagesspiegel“ (Berlin), 01.09.1972

61 Brief Kurt Sandner vom 20.11.1990 an den Bund stalinistisch Verfolgter, in: Privatarchiv Appelius (Berlin); Bericht „F-IM Germano“ vom 13.09.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

62 Protokoll-Liste vom 14.09.1972, in: Privatarchiv Appelius.

63 W. Schmitt, Das Ende einer deutschen Liebe, in: „Der Stern“ Nr. 40 vom 24.09.1972, S. 56.

64 Jetzt dürfen sie rüber: Die Bräute aus dem Osten, in: „Der Stern“ (Hamburg), Nr. 46 vom 05.11.1972, S. 18 ff.

65 Auskünfte A – Z zum Stand der innerdeutschen Beziehungen, Bonn 1978, S. 64, siehe: Reisebeschränkungen.

66 Brief Elisabeth Kühnle vom 08.12.1972 an das Auswärtige Amt, in: Aktenband 938 im Bestand B 83 zum Fall Kühnle/Sandner, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

67 Bericht der HV in Sofia vom 08.03.1973 an das Auswärtige Amt, in: Aktenband 938 im Bestand B 83 zum Fall Kühnle/Sandner, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

68 Karteikarte Kurt Sandner, SED-BL K-M-S, IV C-2/4-651, in: Sächsisches Staatsarchiv (Chemnitz)

69 Brief Kurt Sandner vom 20.11.1990 an den Bund stalinistisch Verfolgter, in: Privatarchiv Appelius (Berlin); Bericht „F-IM Germano“ vom 13.09.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

70 Brief Staatssekretär Lutz Diwell vom 07.09.2009 an MdB Hans-Joachim Otto mit Begleitbrief Hans-Joachim Otto vom 08.09.2009 an den Verfasser, in: Privatarchiv Appelius (Berlin).

Dieser Beitrag wurde zuerst von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.

Wera Sandner

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