Stefan Appelius


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Amerikas Agent

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Amerikas Agent
Kampf eines Sozialdemokraten gegen die Nazis

Von Stefan Appelius

An einem Sommerabend im Jahre 1937 macht ein Fischer im Crossin-See bei Berlin einen merkwürdigen Fang. In seinem Netz haben sich einige leere Flaschen verfangen. Die Botschaft darin warnt vor "zunehmender Kriegsgefahr". Ihr Abender ist der " Internationale Sozialistische Kampfbund" (ISK). Es dauert keinen Tag, und der brisante Fund liegt auf einem Schreibtisch in der Prinz-Albrecht-Straße. Die Gestapo tappt nicht lange im Dunkeln: Josef und Änne Kappius aus Berlin-Lichtenberg, Kynaststr. 29, werden wegen "dringenden Verdachts hochverräterischer Betätigung" zur Fahndung ausgeschrieben. Das Ehepaar muss Hals über Kopf ins Ausland fliehen.

London, im Frühjahr 1944. Der amerikanische Geheimdienst will deutsche Antifaschisten ins Ruhrgebiet schicken. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen werden ausgewählt. Im schottischen Hochland verwandelt sich der Sozialdemokrat Kappius zum Guerillakämpfer: "Ich lernte, mit dem Revolver herumzulaufen und zu treffen, ohne zu zielen", schreibt Kappius später in seinen Erinnerungen. "Und um die Verbrecherausbildung vollständig zu machen, bekamen wir dann noch eingehende Instruktionen, wie man einen zunftgerechten Einbruch macht und dergleichen Dinge mehr, die für einen Illegalen wissenswert sind."

Aus Jupp Kappius wird "Wilhelm Leineweber", ein Bauingenieur und Truppführer in der Organisation Todt. Am Abend des 1. September 1944 steigt Kappius auf einem kleinen Militärflughafen unweit Londons an Bord eines Lancaster Bombers. Sein Auftrag: Der Aufbau einer militanten Widerstandsgruppe. In der Nacht landet er "heimlich, still und leise" auf einem frischgepflügten Acker im emsländischen Sögel: "Den Fallschirm und den Koffer trug ich zu einem Wald hinüber, wo ich dann alles verbuddelt habe." Am nächsten Morgen macht sich Amerikas erster ins Reich eingedrungener Fallschirmspringer-Agent auf den Weg nach Bochum. Die Straße ist belebt durch Bauern, Schulkinder, Kriegsgefangene und ihre Bewacher. Niemand fragt nach seinen Papieren.

Rosen werden im Frühling blühen

Schon einige Monate zuvor hat Änne Kappius als "Krankenschwester" eine Kurierreise durch Deutschland angetreten. Die unscheinbare Frau in abgetragener Kleidung ist auf alles vorbereitet. Notfalls wird sie ihrem Leben ein Ende bereiten: In der Achselhöhle, unter der Haut, hat man ihr eine Giftampulle eingepflanzt.

In einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Bochum findet Jupp Kappius Unterschlupf. Nie verläßt er das Haus am Tage: "Er ging in Strümpfen umher und wagte nicht, einen Wasserhahn aufzudrehen oder die WC-Spülung zu benutzen, wenn er allein war." Sein Auftrag: Den Widerstand gegen das Nazi-Regime zu stärken, Sabotageakte gegen Rüstungsbetriebe durchzuführen und Untergrundarbeit in all ihren Formen zu fördern. Eine Widerstandsgruppe soll Eisenbahnlinien zerstören und und Fluchtwege führender Nazis abschneiden. Schon bald finden sich ein paar Männer: Fabrikarbeiter und Bergleute. Sie treffen sich mindestens einmal in der Woche. Immer wieder wird eine Frage laut: Kappius und seine Gefährten wollen Gewehre, Granaten und Brandsätze von den Engländern.

Nacht für Nacht sendet die BBC Nachrichten ins Reich. Kappius verbringt unruhige Stunden, um das codierte Kauderwelsch abzuhören: "Leckt ihr Füllfederhalter?" - "Rosen werden im Frühling blühen." In seinem Unterschlupf wartet er wochenlang auf die Worte: "Großmutter hat drei Kinder." Doch das Signal für den Abwurf der Waffen bleibt aus. "Erst um Weihnachten herum entschieden wir, dass irgendetwas schief gelaufen sein musste." Die Royal Air Force hat den Plan als zu gefährlich abgelehnt: Unweit der Abwurfstelle befindet sich eine Flakbatterie der Nazis. Die Briten wählen einen anderen Ort aus, aber: "Als wir jemanden dorthin schickten, fand er heraus, dass das Gebiet überhaupt nicht geeignet war." Eine nahe gelegene SS-Schule hat den Plan vereitelt.

Die Welt geht unter

Entgegen seinen Erwartungen sind wenige ausländische Arbeiter an der Ruhr zwangsweise rekrutiert worden. Sie sind auf der Suche nach Arbeit gekommen, viele wollen nach dem Krieg in Deutschland bleiben. Die Nazis haben mit ihrer Politik der Einschüchterung und des gefüllten Magens den Widerstandswillen der Menschen gebrochen. Kappius ist über die Normalität des Lebens im Ruhrgebiet erstaunt. Dabei hinterläßt der Bombenkrieg Tag für Tag völlige Zerstörung: "Es war unheimlich, das Krachen und die Wirkung der Benzin- und Phosphorbomben. Verdammt, dachte ich, die Welt geht unter." Er kann es nicht riskieren, in einem Luftschutzbunker Zuflucht zu suchen, um nicht die Aufmerksamkeit des Bunkerwarts zu erregen. Kappius lebt inmitten einer Nation, in der es Bomben regnet. Doch davon ist nur wenig die Rede. Die meisten Deutschen akzeptieren, dass der Krieg verloren ist, "begnügen sich aber damit, grimmig darüber zu lachen, und taten weiter, was man ihnen zu tun befahl."

Kappius berichtet den Engländern im Spätherbst 1944 von einer Zunahme der industriellen Sabotage im Reich. Eisenbahner verzögern absichtlich für die Front bestimmte Waggonladungen mit Panzern und Kanonen. In einer Bochumer Dampfturbinenanlage wird die Produktion verschleppt, in einem großen Betrieb die Urlaubsanträge von Rüstungsarbeitern wie Handzettel ausgegeben: Ein Gegner der Nazis bringt den Arbeitern bei, dass sie dringend Urlaub brauchen. Als Kappius erfährt, dass die Frankfurter "IG-Farben-Werke" noch immer auf vollen Touren produzieren, legt die alliierte Luftwaffe den Betrieb völlig lahm. Den 13seitigen Bericht hat seine Frau, Deckname "Jutta", über die Schweiz nach London geschafft.

Erst als er von einem drohenden Gestapo-Zugriff erfährt, verläßt Kappius nach viereinhalb Monaten sein Versteck. Nun ist er ständig auf der Flucht. Nirgendwo bleibt er länger als einige Tage. Die Nächte hinter zerbombten Fenstern sind kalt, aber: "Ich hatte immer ein Bett oder ein Sofa zum Schlafen." Anfang April 1945 trifft Kappius auf einer Landstraße amerikanische Soldaten. Er legt ihnen eine ausführliche Liste von Antifaschisten vor, denen sie vertrauen können. Schon einige Tage später befindet er sich auf dem Rückflug nach London: "Es war gut, dass ich gegangen bin. Nur hätte das alles früher sein sollen, vielleicht schon im Herbst 1941, spätestens aber 1942."

Das war ein Wunschtraum

Weniger Glück haben Kappius Gefährten aus dem Einsatzprogramm des Office of Strategic Services (OSS). Die Schriftstellerin Hilda Monte (30) ist schon mehrfach ins Deutsche Reich eingereist. Am 17. April 1945 wird die geborene Wienerin beim Grenzübertritt von einer SS-Patrouille erschossen. Zu dieser Zeit sitzt Willi Kirstein noch in der Todeszelle. Im Dezember 1944 ist er, getarnt als 'Gestapo-Beamter Wilhelm Drucker', von der Schweiz aus nach Österreich gereist. Bald darauf verhaftet und von einem Divisionsgericht zum Tode verurteilt, wird Kirstein erst in letzter Minute von der US-Armee befreit.

Und die Überlebenden? Änne Kappius erlag im Sommer 1956 einem Herzleiden. Sie ist nur 50 Jahre alt geworden. Ihr Mann starb im Dezember 1967 in Dortmund. Eine Vergütung seiner Arbeit wollte er von den Amerikanern nicht annehmen. In den Nachkriegsjahren hat Kappius dem Nordrhein-Westfälischen Landtag als SPD-Abgeordneter angehört. Polizei-Direktor a.D. Wilhelm Kirstein (85) lebt zurückgezogen in einem Dorf nahe der Schweizer Grenze. Er will nicht mehr an seine Vergangenheit erinnert werden, denn: "Die Hoffnung, die uns alle motivierte, war, die große Mehrheit der Gesellschaft wird das Ende des Unrechtsstaates freudig begrüßen. Das war ein Wunschtraum."


Dieser Beitrag wurde am 15. August 1993 im "Tagesspiegel" (Berlin) veröffentlicht.

Jupp Kappius

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