Stefan Appelius


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Herbert Kriedemann

Uni Potsdam > NS-Diktatur

"Bevorzugte Behandlung" von der Gestapo garantiert?

Von Stefan Appelius

Er war ein überdurchschnittlich begabter Intellektueller, sehr schlagfertig und nie um eine Antwort verlegen. Doch in der Gestapo-Akte des SPD-Wirtschaftspolitikers Herbert Kriedemann heißt es: "Zuverlässigkeit ohne Zweifel. Wird von Fall zu Fall bezahlt." Seine Genossen haben die Affäre nach dem Krieg unter den Teppich gekehrt. Dieser Tage wäre Kriedemann 90 Jahre alt geworden.

Ein Rückblick auf offene Fragen: Hannover, 2. Juni 1949. Beim SPD-Parteivorstand herrscht nervöse Anspannung. Im Landgericht wird ein wichtiges Urteil erwartet: War Kurt Schumachers Vertrauter der Gestapo-Spitzel "V 9"? Oder hat er die Nazis als getarnter Doppelagent hinters Licht geführt? Wenige Tage zuvor hat der Parteivorstand der KPD eine Dokumentation "In Sachen Kriedemann" veröffentlicht. Der Politiker kandidiert in Hameln für den 1. Deutschen Bundestag. Sein Sturz hätte unabsehbare Folgen.

Nach der Machtergreifung der Nazis flieht Herbert Kriedemann nach Prag. Bis dahin war der studierte Landwirt als Angestellter im SPD-Parteivorstand tätig. Die Genossen um Erich Ollenhauer zweifeln schnell an der Integrität des wendigen Berliners: "Der Exilvorstand entschloß sich, ihn nach Holland abzuschieben, da er uns nicht mehr tragbar erschien." Dort angekommen, stellt sich Kriedemann in den Dienst der deutsch-feindlichen Spionage: "Jedes Kampfmittel gegen das Hitler-Reich ist recht." Kriedemann aber treibt ein doppeltes Spiel: Als Chef einer Spionagezentrale gegen die Nazis steht er im Solde der Gestapo. Später wird er es seine "Tarnkappe" nennen. Zeugen erklären, dass Kriedemann im kargen Exil wie ein König lebt: Er hat gut zu essen, ist für "alle Vergnügungen" zu haben und raucht teure Zigarren. Ein langjähriger Weggefährte meint: "Vermutlich glaubte er, vermöge seiner überragenden Intelligenz beide Seiten austricksen zu können."

Als 1938 kurz nacheinander drei geheime Kuriere in Deutschland verhaftet und später ermordet werden, meinen sich holländische Sozialdemokraten sicher zu sein: "Verrat! Kriedemann!" Oder ist es nur Zufall, dass Kriedemann die Männer kennt? Für die Nazis verliert er damit an Wert: Der ehemalige "V9" wird nicht mehr als "Vertrauensmann" bezeichnet, da ihn seine Freunde für einen "Spitzel" halten - notiert man in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße.

Nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande 1940 fliegt die Spionagezentrale auf. Kriedemann wird verhaftet. Doch lange bleibt er nicht hinter Gittern. In einem Brief an die Gestapo schreibt er: "Ich habe einmal einen falschen Weg gewählt, um einem Ganzen zu dienen, und habe es bereut. Ich habe jetzt wieder einen neuen Weg gesucht." Der Weg führt in die Freiheit. Kriedemann wird Gutsinspektor in der Nähe von Magdeburg. Zu seinem Hochverratsverfahren geht er als freier Mann. Die Strafe fällt denkbar milde aus: Zwei Jahre Gefängnis, auf Antrag von Gestapo und Staatsanwaltschaft "zur Bewährung" ausgesetzt. Ein politischer Weggefährte urteilt: "Angesichts seiner Aktivitäten gegen die Nazis wäre in jedem anderen Fall ein Todesurteil gefällt und vollstreckt worden."

1942 wird Kriedemann in Wilhelmshaven erneut verhaftet. Er gesteht, in Holland mit dem englischen Nachrichtendienst in Verbindung gestanden zu haben. Als Grund gibt er an, dass er für die Deutschen "etwas Positives" erfahren wollte. In einem zweiten Prozeß wird Kriedemann wegen Landesverrats unter Anrechnung der Vorstrafe zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Ein "merkwürdiges, undurchsichtiges Verfahren", denn erneut wird eine teilweise "Strafaussetzung" wirksam. Später gibt ein ehemaliger Gestapo-Beamter zu Protokoll, es habe die Anweisung vorgelegen, aus der Sache Kriedemann "nichts zu machen".

Kurz nach Kriegsende untersucht eine Kommission des SPD-Parteivorstandes die Affäre. Doch es ist nicht möglich, den Fall aufzuklären. Das muss auch die CDU/CSU-Fraktion im Wirtschaftsrat erkennen, als ein Untersuchungsausschuss gegen den SPD-Fraktionsvorsitzenden ohne Ergebnis bleibt. Wenig später wird ein ehemaliger Kriminalbeamter in die Sowjetische Besatzungszone entführt. Er hätte den Vorwurf einer tatsächlichen V-Mann-Tätigkeit Kriedemanns möglicherweise entkräften können. Dessen "bevorzugte Behandlung" sei auf freundschaftliche Kontakte eines Gestapo-Dezernenten zur Familie Kriedemann zurückzuführen.

Doch dann rehabilitieren die Genossen denm Agrarexperten. Egon Franke verlautbart: "Wir müssen uns im vollen Vertrauen darauf verlassen und brauchen nicht weiter nachzuforschen." Kriedemanns Karriere steht nun nichts mehr im Wege: Parteivorstandsmitglied, Bundestagsabgeordneter, Mitglied im Europäischen Parlament und zuletzt Fraktionsgeschäftsführer der Sozialdemokraten im Bundestag. Sein Geheimnis hat er mit ins Grab genommen: Am 20. Januar 1977 starb Herbert Kriedemann in Bad Nauheim.

Dieser Beitrag wurde am 5. April 1993 in der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht.

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