Stefan Appelius


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Das Rätsel der verschwundenen Leichen

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Das Rätsel der verschwundenen Leichen

Von Stefan Appelius

Abgeknallt, ausgeplündert, im Grenzstreifen verscharrt: Gezielt verschleierte die Stasi das Schicksal zweier DDR-Jugendlicher, die 1966 bei ihrer Flucht über Bulgarien nach Griechenland verschwanden. Wo ihre Kinder begraben sind, erfuhren die Eltern nie - juristisch aufgearbeitet ist das Drama bis heute nicht.

Die Kreisstadt Schwarzenberg liegt im Erzgebirge und hat, für eine Provinzstadt, eine durchaus interessante Historie. 1945 wurde Schwarzenberg erst fast zwei Monate nach Kriegsende von den Russen besetzt; um die "Freie Republik Schwarzenberg", die in dem kurzen Intermezzo auflebte und der Stefan Heym in seinem Roman "Schwarzenberg" ein literarisches Denkmal setzte, ranken sich bis zum heutigen Tag manche Anekdoten. Doch es geistert auch noch eine andere Geschichten aus DDR-Zeiten durch den Ort, die wohl jeder der älteren Einwohner kennt: die Geschichte der verschwundenen Leichen.

Karl-Heinz Engelmann und Siegfried Gammisch kannten sich schon aus der Schulzeit. Dass sie aus Schwarzenberg und dem SED-Staat fliehen würden, stand für sie lange fest. Ein Schwarzenberger, dem die Flucht mit einem Paddelboot über die Ostsee geglückt, war für die beiden Jugendlichen ein Held. Also schmiedeten die beiden 19-Jährigen im Winter 1965/66 einen Plan.

Fliehen wollten Siegfried und Karl-Heinz über das sozialistische "Bruderland" Bulgarien - dort, so nahmen sie an, würden nur ein paar Bauern mit Mistgabeln die Grenze bewachen, nicht Soldaten mit Kalaschnikows. Im staatlichen "Reisebüro der DDR" buchten die beiden für das Frühjahr 1966 eine Jugend-Skireise in das bulgarische Rodopen-Gebirge. Vom Wintersportort Pamporovo aus wollte die beiden über die nahe griechische Grenze fliehen, um sich über diesen Umweg den Traum vom Studium im Westen zu erfüllen.

"Wunderbar, das klappt hier!"

Am Vormittag des 2. April 1966, einem Samstag, stießen die beiden Schwarzenberger am Ost-Berliner Flughafen Schönefeld mit den anderen Mitgliedern ihrer Reisegruppe und dem ostdeutschen Reiseleiter zusammen. Dort begegneten sie auch dem damals 27-jährigen Martin K., einem der Mitreisenden. Was sie nicht wussten: Auch K. wollte die Skitour nutzen, um sich nach Griechenland abzusetzen.

In Pamporovo herrschte ausgelassene Urlaubsstimmung. Das Wetter war gut und das Essen sogar "ausgezeichnet". Siegfried und Karl-Heinz wurden in einem Doppelzimmer einquartiert, der Alleinreisende K. bezog ein Einzelzimmer "Es war ziemlich freizügig da oben, also man sah keine Miliz und auch keine Grenzer", erinnert sich K. rückblickend. "Es war eine richtig nette, schöne Ferienstimmung. Und die Reisegruppe war auch toll, wir haben uns gut verstanden und alle waren vergnügt." Mit der aparten bulgarischen Reisebegleiterin Emilia versteht sich K. besonders gut.

Am Samstag, dem 9. April 1966 nutzt K. das sonnige Wetter, um das Grenzgebiet für seine Flucht zu erkunden. Am Fuße eines Abhangs kann er den bulgarischen und den griechischen Grenzstein erkennen: Irgendwo dahinten musste Thessaloniki liegen. "So einfach ist das also, dachte ich mir", erinnert sich K.: "Die Grenze schien völlig ungesichert zu sein."Sein einziger Gedanke: "Wunderbar, das klappt hier!"

"Das kann ja wohl nicht wahr sein"

Ähnliches haben sich wohl auch Karl-Heinz Engelmann und Siegfried Gammisch gedacht. Beim gemeinsamen Mittagessen der Gruppe fehlen die beiden an diesem Tag, abgemeldet haben sie sich nicht. Am frühen Abend, die Gruppe sitzt gerade im Speisesaal beim Abendessen, fährt plötzlich ein Militärfahrzeug vor. Soldaten nehmen den ostdeutschen Reiseleiter und seine beiden jungen bulgarischen Kolleginnen mit.

Erst zwei Stunden später kehren die drei sichtlich aufgelöst in das Hotel zurück. Reisebegleiterin Emilia klopft noch spät abends an die Zimmertür ihres deutschen Freundes: "Ich muss Dir mal was sagen." Bulgarische Grenzer hätten die beiden Schwarzenberger erschossen, berichtet die junge Frau. Einer der Jungen habe sechs Einschüsse in der Brust gehabt, sie habe die Toten identifizieren müssen. K. ist schockiert - und verrät seiner Freundin, dass er selbst ebenfalls "weg" will. Emilia ist entsetzt: "Mach das bloß nicht. Du hast hier keine Chance, Du kommst hier nicht durch." Sie klärt K. auf, dass es sich bei den Markierungssteinen, die er bei seiner Erkundungstour ausgemacht hat, nur um eine Scheingrenze handelt: Dahinter beginnt ein Niemandsland von mehreren Kilometern, erfährt K. von Emilia: "Da löst Du Alarm aus und die stehen da vorne im Graben und machen Dich fertig. Da hast Du gar keine Chance."

Die letzten Tage der Reise verlaufen in einer gespenstischen Atmosphäre. "Keiner in der Gruppe hat ein Wort darüber verloren, dass die beiden Jungs fehlten. Keiner hat gefragt und der Reiseleiter hat natürlich kein Wort gesagt", erinnert sich Martin K. Die Skigruppe setzt ihren Urlaub einfach fort und reist schließlich ganz planmäßig von Sofia zurück nach Ost-Berlin - als hätten sich die beiden jungen Männer in Luft aufgelöst.

Gefleddert im Grenzstreifen

Am Nachmittag des 12. April 1966 erfährt auch das DDR-Außenministerium von dem tödlichen Zwischenfall. Schon am folgenden Tag werden die Väter der beiden Getöteten getrennt voneinander in den Diensträumen der Volkspolizei in Schwarzenberg durch einen Staatsanwalt über den Tod ihrer Kinder informiert. Die beiden seien in Bulgarien "bei der Begehung einer Straftat" gestellt worden; weil sie sich "durch die Flucht der Festnahme entziehen" wollten, hätten die bulgarischen Sicherheitskräfte von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Dabei seien die beiden Jugendlichen "tödlich verletzt" worden. Wegen der Überführung der sterblichen Überreste, so die Auskunft, verhandle der Generalstaatsanwalt der DDR mit den bulgarischen Genossen.

Was die meisten DDR-Offiziellen damals wohl bereits ahnten, was aber erst jetzt durch Stasi-Akten belegt wird: Die erschossenen "Grenzverletzer" waren ohne lange Umstände direkt im Grenzstreifen verscharrt worden. Zuvor hatten die Grenzer noch die Leichen geplündert; die Feldstecher der beiden, ihre Armbanduhren und auch der Inhalt der Brieftaschen unter den Todesschützen aufgeteilt. Den Eltern der beiden Opfer ließ man dagegen ganz offiziell wissen, mit den Habseligkeiten ihrer Kinder habe man die "Kosten für die Särge" bestritten.

Verzweifelte Eltern

Alles Lüge. Eine Lüge von Staats wegen, die bis heute wie Gift wirkt in dem kleinen Städtchen Schwarzenberg. Mit ihr begann im Frühjahr 1966 eine jahrelange Auseinandersetzung der Familien Engelmann und Gammisch mit den DDR-Behörden um die Leichen ihrer Kinder Siegfried und Karl-Heinz

Die SED-Offiziellen spielten auf Zeit. Zunächst hieß es, eine Überführung der sterblichen Überreste werde in Kürze erfolgen. Nur ein paar Tage später lautete die Auskunft, aus "klimatischen Gründen" könnten die sterblichen Überreste nicht aus den verschneiten Rodopen geholt werden. Dann wieder kam die Information, man habe die Leichen der beiden jungen Männer auf dem Friedhof von Smolyan beigesetzt. Die Bulgarische Botschaft in Ost-Berlin erklärte "nichts" zu wissen, es handele sich um eine "private Angelegenheit", in die sich die Vertretung "nicht einschalten" dürfe - man verwies auf die "Bruderorgane der DDR". Später deutete die Botschaft den Eltern an, die beiden Teenager seien gar nicht erschossen, sondern festgenommen und der Stasi übergeben worden.

Das Verwirrspiel nahm für die verzweifelten Eltern kein Ende. Schließlich entschlossen sich die beiden Mütter der Toten, selbst nach Bulgarien zu reisen, um sich der Dinge vor Ort anzunehmen - sie erhielten nie eine Reisegenehmigung. Was sie erfuhren, war, dass ihre Jungs "zerschossen wie ein Sieb" gewesen seien, wie die Frauen in einem Brief an den Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel klagten.

Ein Leichenwagen mit Berliner Nummernschild

In der Zwischenzeit hatte im kleinen Schwarzenberg die Gerüchteküche zu brodeln begonnen. Aufmerksame Einwohner wollten nämlich einen Leichenwagen "mit Berliner Nummernschild" beobachtet haben, der mit zwei Särgen durch Schwarzenberg ins benachbarte Annaberg gefahren sei, angeblich begleitet von einem Wagen der Volkspolizei.

Die Familien der Opfer hörten bald von dem Gerücht - und von einem mysteriösen Grab, das man in jenen Tagen auf dem Johannes-Friedhof im Ortsteil Sachsenfeld ausgehoben habe. Ein Mitschüler von Karl-Heinz Engelmann bestätigte, dort ein frisch ausgeschaufeltes Grab gesehen zu haben. Auf einmal schien alles klar: "Der Herr Engelmann hat mir erklärt, dass man die beiden heimlich auf dem Johannes-Friedhof begraben habe", erinnert sich der Zeitzeuge heute, "da anderenfalls ja eine riesige Trauergemeinde auf dem Friedhof erschienen wäre. Das erschien mir damals ganz logisch."

Doch die Leichen blieben verschwunden. Immer verzweifelter klammerten sich die Eltern an den Glauben, man habe die beiden Jungen heimlich in Schwarzenberg unter die Erde gebracht. Schließlich ließ die Stadtverwaltung das Doppelgrab öffnen, in der Vater Engelmann die beiden Toten wähnte. Armstarke Wurzeln zeigten schnell, dass hier seit vielen Jahren keine Beerdigung stattgefunden hatte.

"Begründung: Suche nach der Wahrheit"

Dennoch ließen die Eltern nicht locker: Sie erwarben die Grabstelle und beantragten beim Rat des Kreises Schwarzenberg deren Öffnung: "Begründung: Suche nach der Wahrheit. Bisherige Maßnahmen unvollkommen" - ein mutiger Schritt, war dies doch ein direkter Angriff auf die Verschleierungstaktik des SED-Staates im Fall der beiden toten jungen Männer.

Auch diesem Antrag gaben die Behörden schließlich statt - es einfach nicht, die Gerüchte zum Verstummen zu bringen. So erschien am 14. Dezember 1970 um 8 Uhr in der Frühe - gut viereinhalb Jahre nach dem Verschwinden von Siegfried und Karl-Heinz - der Totenbettmeister mit Werkzeug und Schutzkleidung auf dem Sachsenfelder Friedhof, um dem Geheimnis um die verschwundenen Leichen endgültig auf den Grund zu gehen. Außerdem erschienen die Familien der Opfer, die Genossen vom Rat des Kreises und ein Amtsarzt. Für alle sonstigen Besucher wurde der Friedhof gesperrt. "Ausgerechnet die politischen Organe, die das ganze verschuldet hatten, sollten nun Licht in die Sache bringen", erinnert sich der damalige Gemeindepfarrer. Das Ergebnis der Exhumierung ist für die Eltern niederschmetternd: "Der Kreisarzt hat ihnen dann anhand der Skelettreste erklärt, dass es sich um ältere Personen gehandelt hat, die mehr als 20 Jahre vorher dort bestattet wurden.", rekapituliert der Pfarrer.

Der Wunsch, endlich das Grab ihrer Kinder zu kennen, hat die Eltern von Karl-Heinz Engelmann und Siegfried Gammisch bis zu ihrem eigenen Tod nicht losgelassen. Sie sind in den neunziger Jahren verstorben - die Leichen von Siegfried und Karl-Heinz bleiben verschollen, bis heute.

Klage gegen Bulgarien?

Wie viele "Grenzverletzer" aus der DDR in den sechziger und siebziger Jahren im Gebiet von Smolyan einfach niedergeschossen und gleich vor Ort verscharrt wurden, ist Spekulation - aber allen Indizien nach dürfte es eine zweistellige Zahl gewesen sein. Juristisch aufgearbeitet worden ist diese gruselige Hinterlassenschaft des Realsozialismus bis heute nicht. Im vergleichsweise gut dokumentierten Fall der beiden Schwarzenberger hat die Staatsanwaltschaft Dresden ihre Ermittlungen mittlerweile eingestellt, Begründung: Es gebe "keine Anhaltspunkte" für eine in der DDR begangene Straftat.

Die Schwester von Karl-Heinz Engelmann will sich damit nicht abfinden. Sie erwägt, gemeinsam mit anderen Opfer-Familien Bulgarien vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verklagen: "Das bin ich meinen Eltern, meinem Bruder und dessen Freund schuldig."

Dieser Artikel wurde zuerst auf Spiegel-Online veröffentlicht.

Friedhof in Schwarzenberg

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