Stefan Appelius


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Der Mensch ist meist kein Held

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Der Mensch ist meist kein Held

Von Stefan Appelius

Die Nachricht von der Brandstiftung in der Lübecker Synagoge ging um die Welt: "Dass so etwas heute überhaupt noch möglich ist, bringt alle diese Schrecknisse doppelt in die Erinnerung", entsetzt sich Dora Segall. Die britische Presse berichtet ausführlich über rechtsextremistische Ausschreitungen in der Bundesrepublik. Dass die Polizei sich bei den ausländerfeindlichen Krawallen in Magdeburg passiv verhalten haben soll, weckt bittere Erinnerungen: "Unsere große Angst ist, dass diese Dinge ausufern."

"Wir haben für das 'andere Deutschland' gekämpft. Wir hätten es als Verrat an unseren Freunden angesehen, wenn wir nicht immer wieder gesagt hätten: Es gibt ein anderes Deutschland." Das war nicht immer ganz einfach. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde Dora Segall entlassen. Ende Mai 1939 musste sie mit ihrem Mann nach London emigrieren: " Wir haben es uns gar nicht leicht gemacht, denn wir hatten beide das Gefühl, dass in England niemand auf uns wartet."

Im Juni 1933 riefen Fritz und Dora Segall jeden Abend vor dem Heimweg in ihrer Tempelhofer Wohnung an. Eines Tages meldete sich eine Männerstimme: "Statt zu flüchten, sind wir in unser Polizeirevier gegangen. Da sagte man uns, SA-Leute wollten meinen Mann verhaften." Die Polizisten boten an, ihn in "Schutzhaft" zu nehmen. "Wir wussten nicht, dass die Nazis schon längst das Polizeipräsidium kontrollierten, und dachten, es sei die Rettung." Fritz Segall kam für mehrere Wochen in Einzelhaft.

Was konnte man nach der "Machtergreifung" gegen die Nazis tun? Dora Segall schüttelt den Kopf. Käme es heute erneut zu einer Diktatur, es gäne nicht mehr Widerstand als damals, meint sie: "Der gewöhnliche Mensch ist kein Held. Entweder du machst deinen Mund auf - und kommst nicht mehr nach Hause, oder du machst so wenig wie möglich mit, damit du durch die Zeit kommst."

Das Ehepaar suchte sich 1933 eine neue Unterkunft. Fritz Segall übernahm die Leitung der Künstlerhilfe der jüdischen Gemeinde in Berlin. Später arbeitete er als Referent für die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland". Dora Segall bereitete die Auswanderung jüdischer Frauen vor: "Wir hatten das Gefühl, man konnte noch etwas für die Menschen tun." Beide standen in Verbindung mit dem politischen Widerstand. Doch ihre Gefährdung in Deutschland wuchs ständig. "Kein Mensch, der nicht in einem totalitären Staat gelebt hat, kann sich einen Begriff davon machen."

Als die Synagogen im November 1938 brannten, wohnte das Ehepaar Segall in der Berliner Uhlandstraße. "Tröstlich fand ich, dass die meisten Menschen empört waren. Man konnte wirklich merken, dass das eine inszenierte Angelegenheit war, keine spontane Volksbewegung."

Am 1. Juni 1939 traf das Ehepaar in London ein. Dora Segall fand Arbeit beim jüdischen Flüchtlingskomitee. Ihr Mann aber kam nach Ausbruch des Krieges ins Internierungslager. Als "feindlicher Ausländer". Die Engländer fürchteten eine deutsche Invasion. Alle deutschen Männer kamen deshalb ins Lager. Gleichgültig, ob Nazi oder Antifaschist: "Das war eine vollkommen unüberlegte Aktion." Später musste der Rundfunk-Journalist sein Geld als Hilfsarbeiter verdienen: "Wie haben wir uns gefreut, als wir unsere ersten 50 Pfund gespart hatten.Das kam uns vor wie ein Vermögen."

Dora Segall schloss sich der Labour Party an. Eines Tages sagte ihr eine englische Freundin: "Es ist sehr merkwürdig. Ich spreche kein Deutsch - aber unsere Sprache ist doch die gleiche." Diese Erfahrung hat sie mit vielen Engländern gemacht.

Ihre Schwiegermutter wurde in einem deutschen Vernichtungslager ermordet. Dora Segall aber hat trotzdem an das "andere Deutschland" geglaubt. Gleich nach Kriegsende half sie beim Wiederaufbau: "Wir haben Kleider, Nähnadeln, Strümpfe gesammelt und nach Deutschland geschickt." Unterstützt von Victor Gollancz und Bertrand Russell entstand die "Arbeiterwohlfahrt London - British Aid for German Workers." Dora Segall und ihre Mitarbeiterinnen sorgten für Ferienaufenthalte unterernährter deutscher Kinder bei englischen Familien. Ihr Bundesverdienstkreuz traf erst vierzig Jahre später in London ein.

Dora Segalls Wohnung steckt voller Erinnerungen. Sie zeigt auf ein altes Sofa. Hier pflegte Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter einst zu übernachten. Auch der Berliner SPD-Chef Franz Neumann schlug seine Zelte mehr als einmal in der Goldhurst Terrace auf. Fritz Segall, der letzte Vorsitzende der Vereinigung deutscher Sozialdemokraten in Großbritannien, ist schon vor mehr als zwanzig Jahren gestorben.

Eine kleine Kolonie deutscher Emigranten gibt es noch immer in London. Sie leben in der Nähe der Finchley Road. Seit 1943 treffen sie sich jeden Montagabend in einem Club: "Es gab viele Leute, die auch von der deutschen Sprache nichts mehr wissen wollten. Es gibt heute noch Leute, die unter keinen Umständen nach Deutschland gehen würden."

Dora Segall, die letzte Präsidentin des Clubs der Vereinigung jüdischer Flüchtlinge, hat noch viele Freunde in Berlin. Am 1. Juni ist sie neunzig Jahre alt geworden. Doch von Ruhestand keine Spur. Sie list die Druckfahnen der "Europäischen Ideen" Korrektur - ein in England viel beachtetes Blatt. Welche Hefte sie nicht gelesen habe, das, sagt sie ohne falsche Bescheidenheit, könne ein jeder "genau feststellen."

Dieser Beitrag erschien im Juli 1994 im "Vorwärts".

Dora Segall

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