Stefan Appelius


Direkt zum Seiteninhalt

Man ist einsam in New York

Politisches Lernen > Jüdisches Exil

Man ist einsam in New York

Von Stefan Appelius

Jeden Mittwoch trifft sich in einer Wohnung am New Yorker East River ein gutes Dutzend älterer Herrschaften: Die letzten Gäste eines deutschen Emigrantenstammtischs, den der Schriftsteller Oskar Maria Graf vor über 50 Jahren ins Leben gerufen hat.

New York - Upper East Side. Es ist Abend in der Millionenstadt. In der 89. Straße herrscht noch immer reger Verkehr. Autos hupen, gar nicht weit entfernt hört man die unvermeidliche Sirene eines Krankenwagens. Vor einem Wohnhaus in der Nähe des East River treffen nach und nach ein gutes Dutzend älterer Damen und Herren ein. Der Pförtner - der jeden Neuankömmling genauestens mustert - hat sich längst daran gewöhnt, dass sie alle zu Gaby Glückselig wollen. Der Fahrstuhl hält im fünften Stockwerk, vor ihrer Wohnungstür. Hier spricht man deutsch: Jeden Mittwoch am Stammtisch der Emigranten. Seit über 50 Jahren geht das so, damals hat der bayerische Volksschriftsteller Oskar Maria Graf das gemütliche Beisammensein ins Leben gerufen.

Die Tür öffnet sich und eine leger gekleidete ältere Dame sagt ganz zwanglos: Hi, ich bin Gaby. Kommt doch herein." Es ist eine kleine, liebevoll eingerichtete Wohnung - zur Straße hinaus. Etliche Jacken und Taschen türmen sich im schmalen Flur. Um die Ecke geht es ins Wohnzimmer. An einem runden Tisch sitzen bereits einige regelmäßige Besucher des Treffens. Sie unterhalten sich, haben Getränke in der Hand oder essen Weintrauben und Klementinen, die auf dem Tisch liegen. Es herrscht eine ausgesprochen familiäre Atmosphäre. Am Fenster ist ein Tisch mit Speisen und Getränken aufgebaut. Jeder von ihnen hat etwas beigetragen und heute abend zum Stammtisch mitgebracht. Ein Nudelauflauf, verschiedene Salate, Käse, frisches Brot, Wasser und Wein stehen zur Wahl.

"Der feste Tag gibt der Woche eine Struktur", erklärt uns eine alte Frau: "Für mich ersetzt das irgendwie die Familie." Sie und ihre Freunde am Stammtisch stammen aus jüdischen Familien. Viele von ihnen haben im Holocaust Freunde und Angehörige verloren. Zeitlebens hatten sie das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Hier aber können sie sich wie zuhause fühlen. "Der Stammtisch hat seinen Zweck. Man weiß: Einmal in der Woche ist immer jemand da. In New York - let's face it - ist man doch einsam in Wirklichkeit", sagt der 88jährige Harry Asher in unverkennbar wienerischem Tonfall. Den beherrscht er noch immer "wie ein Kutscher" wenn es sein muss. Asher ist ein Mann der ersten Stunde. Er ist den Nazis im letzten Augenblick entkommen. Sein Freund Oskar Maria Graf hat ihm damals ein amerikanisches Visum verschafft: "Wenn man kein Visum hatte, dann war es eben aus."

Der Stammtisch, erzählt Asher, entstand 1943 durch einen Zufall. Damals gab es zwei-, dreimal in der Woche kein Fleisch in New York. So traf sich das Ehepaar Asher mit Oskar Maria Graf im Restaurant "Alt-Heidelberg" in der 2. Avenue. Aus dem gemeinsamen Essen mit anregenden Unterhaltungen wurde schon bald eine liebe Gewohnheit: "Schau, das ist doch eigentlich nett, das kann man doch jede Woche machen." Durch Mundpropaganda wurde das Zusammensein unter Freunden rasch publik. Man traf sich in verschiedenen Restaurantsim Stadtteil Yorkville. Oskar Maria Graf war schon unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis nach New York emigriert: "Der hat ja schon alle Wirtshäuser gekannt. Also hat er uns mitgenommen."

Man traf sich schon damals jeden Mittwochabend. Der einstmals "lauteste Dichter Münchens" bestand darauf, dass die Teilnehmer "ganz unprominente Menschen mit ordentlichen Berufen, oft recht harten und nüchternen" waren. Eins aber war allen gemeinsam: Sie liebten "die deutsche LIteratur, die Literatur überhaupt." Gelegentlich nahm Bertolt Brecht an dem gemütlichen Beisammensein teil. Er schätzte Graf als einen der größten Dichter. Es wurde gegessen, vorgelesen und diskutiert. Deutschamerikaner auf Zeit, die ihren Zusammenhalt pflegten. "Der Graf war ein richtiger bayerischer Bauer. Er hat diese Rolle sehr geliebt. Der ist in New York nur in der Lederhose herumgegangen und hat kaum ein englisches Wort gekannt, konnte saugrob werden, und wenn er jemanden nicht gemocht hat, dann hat er ihn so verekelt, dass er nach einiger Zeit verschwunden ist."

Was hat sich gewandelt, seit damals? "Aus meinem Blickpunkt fast alles", sagt Harry Asher: "Was sich wirklich geändert hat, sind die Gesprächsthemen. Die meisten von uns waren politisch interessiert. Heute reden die Frauen darüber, wo man Käse zu kaufen kriegt. Es ist ein Kaffeekränzchen geworden." Der alte Mann stockt: "Ich gehe hin, weil ich die Leute mag. Es ist irgendwie ein Zusammenhalt."

Neuerdings sind oft junge Menschen aus Deutschland und Österreich zu Gast. "In dieser Hinsicht hat der Stammtisch der Emigranten vielleicht noch immer eine Aufgabe", räumt Asher ein: "Für so einen jungen Menschen, der den Holocaust nur aus dem Geschichtsbuch kennt, bin ich doch ein Weltwunder. Dass ich überhaupt noch lebe und reden kann!" Asher lacht: "Die hören mir zu. Aber wenn wir nicht mehr da sind, dann ist es aus. Asher hat keine Verwandten mehr und ein Amerikaner ist er auch in den 55 Jahren seit seiner Ankunft nicht geworden: "Soll ich unglücklich sein in New York? Lächerlich! Ich lebe hier."

Keiner der hier versammelten Emigranten hat die deutsche Sprache verlernt. Trotzdem sprechen auch Ehepaare untereinander häufig englisch. "Ich bin nicht hier, um das Fortleben der deutschen Sprache zu sichern", sagt Harry Asher. Ihre Kinder und Enkel sprechen kaum noch Deutsch. Die Nachbarn der deutschen Emigranten sind völlig assimiliert. "Es gibt kaum eine ethnische Minderheit, die so schnell wegschmilzt, wie die Deutschen. Überall. Die muss man an den Haaren herbeiziehen, um Deutsch zu reden.". Es fehle den Deutschen eben an Nationalbewußtsein, meint Harry Asher. Die Einwanderer aus anderen Ländern haben da viel weniger Probleme: "Nehmen Sie die Italiener oder die Griechen. Natürlich sprechen bei denen die Kinder die Heimatsprache ihrer Eltern."

Die ganze Gruppe geht gewöhnlich einmal in der Woche ins Konzert. Die Liebe zur Musik und zur Literatur hält sie kulturell zusammen. Ein Leben ohne Goethe? Das kann sich Harry Asher bis heute nicht vorstellen. "Als ich nach Amerika gekommen bin, gab es in der 4. Avenue Buchläden, da konnte man die wunderbarsten deutschen Klassiker für 10 Cent das Stück kaufen. Eine gute deutsche Familie - in meinem Fall jüdische Familie - hat natürlich 24 Bände Goethe, 12 Bände Lessing und 14 Bände Schiller gehabt. Das war die Luft, die man geatmet hat. Mit denen bin ich aufgewachsen."

Nach dem Tod von Oskar Maria Graf trafen sich die Teilnehmer des Stammtischs viele Jahre in der Penthouse-Wohnung von Harry Asher, hoch oben im 16. Stockwerk, mit Blick auf den Broadway. Doch nachdem seine Frau Lea gestorben ist und seine Gesundheit es nicht mehr zuließ, zog der Stammtisch zu Gaby Glückselig. Sie ist im Leo-Baeck-Institut beschäftigt. Ihr verstorbener Mann, Fritz Glückselig, machte sich als Lyriker unter dem Pseudonym Fritz Bergammer einen Namen. An den Wänden hängen viele Bilder, umrahmt von Blumen. Hier und da steht eine kleine Skulptur. Und der Bücherschrank ist voll schöner Literatur, vieles davon in Deutsch. Gerade wird ein Brief eines ihrer Freunde vorgelesen. Ein "Snowbird", wie man hier sagt, der den Winter im warmen Florida verbringt. Dann klingelt das Telefon und ein anderer alter Freund grüßt die versammelte Runde.

Gabys Schwager, Leo Glückselig (81), ist die eigentliche Seele des regelmäßigen Treffens. Der gebürtige Wiener hat heute Abend einen selbstgemachten Eiersalat mitgebracht - seine Spezialität. Er hat "den Oskar" noch gekannt, ist aber selber "erst" seit etwa 30 Jahren dabei. Nach dem Tod von Graf, erzählt er, ist man einfach weiter in das Lokal gekommen, wo man sich stets getroffen hatte, obwohl sie immer weniger wurden. Bis heute eben: "Wir haben alle unser Alter gewußt, aber es war uns nicht bewußt, dass wir schon so lange damit beschäftigt sind."

Leo Glückselig war viele Jahre freiberuflich als Zeichner für eines der renommiertesten amerikanischen Magazine tätig. Ein Angebot, Art Director der Zeitschrift zu werden, schlug er aus, um unabhängig zu bleiben. Unabhängigkeit und Freiheit, darauf will er nie mehr verzichten. Noch heute setzt er sich in seinen Zeichnungen mit den schrecklichen Erlebnissen während der Nazi-Diktatur in Deutschland und Österreich auseinander. Der Sohn eines wohlhabenden Kunständlers ist in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde in der österreichischen Hauptstadt aufgewachsen.

Zwei Tage nach dem "Anschluss" seiner Heimat an Deutschland im Frühjahr 1938 verließ Familie Glückselig Wien. Es gelang ihnen, ein amerikanisches Visum zu erhalten: "Man ist an Papieren am Leben geblieben oder gestorben. Das war reines Glück." Doch die Ausreise aus Nazi-Deutschland gestaltete sich zu einem Abenteuer. Leo und sein Bruder Fritz reisten nach Köln. Dort gab es ein Café, wo ein Kontakt zwischen auswanderungswilligen Juden und der Gestapo bestand. Sie konnten sich die Flucht mit Schmiergeld erkaufen. Gestapoleute brachten sie bis zur holländischen Grenze. Leo und Fritz schienen schon gerettet zu sein. Dann aber kamen drei holländische Grenzer und jagten sie unter Fußtritten und Schlägen zurück nach Deutschland. Die beiden Brüder landeten in einem Folterkeller der Nazis und erlebten stundenlange Prügelorgien. Schließlich aber kamen sie doch auf ein Schiff nach Amerika.

"Die große Aufregung beginnt, wenn man vom Ozean in die Bucht einfährt und dann die Freiheitsstatue sieht. Wenn man aus der Hölle Europas herauskam, hat das Sy<mbol doch Bedeutung gewonnen", sagt Glückselig. Auf Ellis Island, dem damaligen Sammelpunkt für alle Einwanderer, schien diese Hoffnung trotz des wunderbaren Visums am Neujahrstag 1939 zu zerrinnen: "Direkt am Eingang der riesigen Halle stand ein typischer New Yorker Polizist. Ich sagte zu meinem Bruder in Deutsch 'Eine schöne Geschichte. Da sind wir jetzt von einem Gefängnis ins andere gekommen.' Der Polizist hat das gehört und kam auf uns zu. Und er legte den Arm um meine Schulter und sagte auf jiddisch, dass wir keine Angst haben sollen, wir werden schon nicht zurückgeschickt", erzählt Leo Glückselig. "Wenn eine Uniform in diesen Umständen jiddisch spricht, kann es nicht so arg sein. Wir haben sogar lachen müssen."

Dann aber kam der Trübsinn. Warum war er den Nazis entkommen? Seine Verlobte Ita, "eine sehr hübsche, rothaarige Person" war noch immer in Polen, ihrer Heimat. Viele seiner Freunde waren schon von den Nazis erschlagen worden. Am schlimmsten war die Hilflosigkeit, erzählt Glückselig. Man konnte nicht einen Finger bewegen, um etwas gegen die Nazis zu tun: "Wenn man zurückgeschlagen hat in irgendeiner Form, sind gleich Hunderte bestraft worden. Man konnte nicht einmal ein Feigling sein und weglaufen."

Sein rechtes Auge ist von Geburt an blind. Eigentlich hätte er kein Soldat werden müssen. Auch war er stets ein absoluter Pazifist, der niemals eine Uniform tragen wollte. Jetzt aber musste er in irgendeiner Form reagieren. Er konnte die Dinge nicht einfach hinter sich lassen. Und er bewarb sich in der Armee. Schon bald stellte sich heraus, dass er ein ausgezeichneter Schütze war. Leo Glückselig sieht sich um. Die Frauen am Stammtisch stimmen ihm zu: ""Wir haben alle, als der Zweite Weltkrieg begonnen hat, das Gefühl gehabt, es ist unser Krieg." Eine andere Teilnehmerin nickt: "Während des Zweiten Weltkriegs waren wir natürlich amerikanisch-nationalistisch."

Glückselig wurde Soldat. Ohne jede Begeisterung. "Es war einfach ein muß. Ich wollte nur nicht das Gefühl haben, dass ich nicht einen Finger gerührt habe, in dieser Sache etwas beizutragen. Das war meine persönliche Angelegenheit." Erst in Europa bemerkt er, wie notwendig der Krieg für ihn gewesen ist. Durch die jahrelange Hilflosigkeit hatte sich eine ungeheure Wut in ihm angesammelt. Während der Belagerung von Brest in Frankreich erhielt er den Auftrag, acht gefangene deutsche Infanteristen hinter die amerikanischen Linien zu bringen. Glückselig trug ein Maschinengewehr. Auf einmal fing seine Hand an zu zittern. Sollte er die Männer töten? "Man bweiß nie in extremen Situationen, wie man reagieren wird. Im vorhinein hatte ich vielleicht den Revanche-Gedanken. Da habe ich auf einmal gespürt, der Hitler gewinnt über mich. Das darfst du nicht machen! Da ist eine ungeheure Kälte in mir entstanden. Ich war nahe dem Weinen." Es war ein Schlüsselerlebnis für Leo Glückselig, das merkt man ihm noch heute an.

Im nördlichen Teil von Manhattan, schon fast in der Bronx, siedelten sich damals unzählige deutsche Emigranten an. Man nannte die Gegend um den Fort Washington Park deshalb früher auch das "Vierte Reich". Hier wurde deutsch auch auf der Straße gesprochen. "Wir haben New York immer ein Dorf genannt", erzählt Leo Glückselig: "Es ist eine eigenartige Stadt, ebenso hart wie liebenswert." Heute wird das Straßenbild dort durch puertoricanische und dominicanische Einwanderer geprägt. Noch immer aber kann man hier und da Spuren der deutschen Emigranten finden. Da gibt es zum Beispiel auf der 181. Straße das Lebensmittelgeschäft einer deutschen Frau und ihres spanischen Mannes. Dort kauft Leo Glückselig mit Vorliebe Würste, Käse, Brot und Kuchen - wie man es aus Europa kennt. "Sie backen herrlich."

Ita, seine große Liebe, hat die Verbrechen der Nazi-Tyrannei wie durch ein Wunder überlebt. Nach neun Jahren traf sie aus London kommend auf einem amerikanischen Flughafen ein. Niemals wired Leo Glückselig das Wiedersehen mit ihr vergessen: "Sie war bildschön, mit einem gehetzten Gesichtsausdruck. Sieht mich und sagt als erstes: 'Bist Du dick geworden!'" Sie trug einen Pelzmantel und Lederstiefel, die sie für ein paar Dollar in Budapest gekauft hatte. Sonst aber hatte sie "nicht einen Groschen" mit nach Amerika gebracht. Es war, als wären sie niemals getrennt gewesen. Schon nach wenigen Wochen wurde geheiratet.

Seine Frau hat furchtbare Dinge während des Nazi-Regimes erlebt und war ein zeitlebens sehr verletzter Mensch. Vor einigen Jahren ist sie an einer schweren Krankheit gestorben. Zuhause, bei ihrer Familie: "Sie wollte glücklich in den Tod gehen, nicht in einem Spitalsbett." Heute hat Leo Glückselig nur noch seine Tochter. Auch sie spricht kaum noch deutsch. Für den alten Mann aber ist seine Sprache unverzichtbar: "Viele Emigranten waren sehr verloren in New York. Es gab Deutsche, die sagten, I won't speak a word of german any more as long as I live. Das war nicht meine Meinung, aber ich konnte es verstehen. Die Sprache ist eines der wenigen Dinge, die wir retten konnten."

Er und seine alten Freunde gehören zu den letzten Überlebenden des Holocaust. An ihrem Stammtisch kommen sie einmal die Woche zusammen. Sie sind jetzt alle über 80. Sie gehören zusammen. Doch die Zeiten haben sich geändert: "Heute kann der Stammtisch nicht mehr die gleichen Aufgaben haben, wie damals mit Oskar." Die jungen Leute aus Europa sind "die Brücke zurück", meint Leo Glückselig. Erst 40 Jahre nach Kriegsende ist er selbst wieder in Wien gewesen: "Österreich war bis in die Knochen antisemitisch und ist es zum großen Teil noch immer. Aber kulturell bin ich sehr sehr stark mit dem Land und mit der Landschaft verbunden. Eine sehr schmerzhafte Erkenntnis, weil es für mich vorbei ist." Glückselig, erklärtermaßen "durch und durch ein Exil-Mensch" musste sich eingestehen, dass er noch immer sehr österreichisch geprägt ist. Ist Amerika seine Heimat geworden? Der alte Mann schüttelt nachdenklich den Kopf: "Viele von uns lehnen das Wort Heimat einfach ab, als wäre es ein Verrat an unseren eigenen Gefühlen. Amerika ist mein Zuhause, aber ich kann es doch nicht meine Heimat nennen. Es ist nicht meine Heimat. Leider Gottes: Die einzige Heimat, die ich habe, ist Österreich. Ich bin mir ganz klar darüber geworden."

Der Stammtisch ist für Leo Glückselig und seine alten Freunde wie Familie. Man duzt sich untereinander, und viele kennen sich schon seit Jahrzehnten. Seit einem Jahr nimmt auch der gebürtige Berliner John Heinig (82) an den Treffen teil. Sein Vater war ein prominenter Reichstagsabgeordneter in der Sozialdemokratischen Fraktion. Der überzeugte Antifaschist war mit einer jüdischen Frau verheiratet und verließ das Land 1933 mit seiner Familie. Sein Sohn John gelangte nach einigen Jahren in Paris nach New York. Auch er kehrte als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurück. Eine späte Genugtuung. Wie alle anderen auch, hat Heinig nach Kriegsende keinen Augenblick daran gedacht, nach Deutschland zurückzukehren. Die Männer und Frauen vom Stammtisch der Emigranten fühlen sich in Deutschland nicht mehr zuhause. Sie haben kein Vertrauen mehr zu den Deutschen. Vor allem älteren Bundesbürgern begegnen sie mit Mißtrauen. Das, was sie erlebt haben, war so grauenhaft, dass sie sich manchmal gar nicht mehr vorstellen können, es wirklich erlebt zu haben. Doch Österreich begegnen sie mit noch weit mehr Ressentiments: Nicht erst der Rechtspopulist Jörg Haiser und seine "Freiheitliche Partei" macht ihnen Angst. Da gibt es auch noch die Mentalität der Menschen: Die Österreicher halten sich immer noch für die ersten Opfer jener schlimmen Zeit. Auch das ist ein Grund, warum sich Glückselig bei jedem Besuch schon nach wenigen Tagen unwohl in der Alpenrepublik fühlt.

Die Gespräche und Begegnungen am Stammtisch sind wie im Fluge vergangen. Die Uhr geht auf Mitternacht. Zum Schluss wird ein selbstgemachter Obstsalat serviert, es gibt Eiscreme und eine Tasse Kaffee. Trudy Jeremias, eine gebürtige Wienerin, zieht den Mantel an und rüstet sich zum Aufbruch. Sie wird Harry Asher, der nicht mehr gut laufen kann, in ihrem Auto nach Hause fahren. Während der Fahrstuhl langsam nach unten fährt, sagt sie leise: "Antisemitismus wird es geben, solange es Juden gibt. Dan kann man nicht raus. Wir haben trotzdem seit zweitausend Jahren überlebt."

Dieser Beitrag wurde am 24. März 1996 im "Tagesspiegel" (Berlin) veröffentlicht.

Leo Glückselig

The ImmigrantsJohn HeinigLeo GlückseligGaby Glückselig

Home | Kontakt | Universität Oldenburg | Universität Potsdam | Politisches Lernen | Sitemap


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü