Stefan Appelius


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Eine Heimat für die Emigranten von einst

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Eine Heimat für die Emigranten von einst

Ihre Zahl wird immer kleiner. Aber noch treffen sich einmal in der Woche in einem Londoner Club von den Nazis vertriebene Deutsche.

Von Stefan Appelius

London, die jüdische Synagoge am Belsize Square. Nur ein paar Schritte entfernt von Swiss Cottage, einem alten Fachwerkhaus an der Finchley Road, das diesem Stadtteil seinen Namen gegeben hat. Nach und nach füllt sich der Versammlungsraum in der kleinen Synagoge. Etwa 30 Männer und Frauen haben sich eingefunden. Kaum einer von ihnen ist jünger als 70. Es sind Mitglieder und Freunde des "Club 43". Deutsch-jüdische Emigranten, die sich hier im Londoner Norden seit mehr als 50 Jahren Montag für Montag zu ihren Versammlungen treffen.

Als der einzigartige Club deutscher Emigranten vor 52 Jahren gegründet wurde, war der Ausgang des Zweiten Weltkriegs noch keineswegs sicher. Den von den Nazis aus ihrer Heimat vertriebenen Männern und Frauen ging es um die Fortführung gesellschaftlicher und kultureller Traditionen des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums. Und je mehr die Emigranten in London finanziell verarmten, desto mehr hielten sie sich an geistige Werte: "Die einzige Waffe, die beste Möglichkeit sich zu erhalten, waren Gedanken. Man hatte sie aus ihrer Sprache vertrieben, die für die meisten von uns die eigentliche Heimat war. Sie wollten reden, und viele wollten zuhören", hat es die Schriftstellerin Grete Fischer einmal beschrieben.

Seine Glanzzeit hatte der "Club 43" während des Krieges. Mehr als 200 Mitglieder hatten sich in der von linksliberalen Intellektuellen gegründeten Vereinigung eingeschrieben. An den gutbesuchten Veranstaltungen nahmen der Schriftsteller Erich Fried, der Publizist Kurt Hiller und der ehemalige Reichstagsabgeordnete und SPD-Vorsitzende im Exil Hans Vogel teil. Nach Kriegsende fand man neue Aufgaben und wurde zur Begegnungsstätte der deutschen Kolonie im Swiss Cottage. Seither steuert die deutsche Botschaft in London jährlich einen finanziellen Zuschuß zur Arbeit des Clubs bei. Doch die Reihen haben sich gelichtet. Heute sind es nur noch 35 Frauen und Männer. Aber die alte Emigrantenorganisation weigert sich, die Flinte ins Korn zu werfen. Nicht ohne Grund: Was deutsch war, hat keinen guten Namen in Großbritannien. Fragt man die Engländer nach einem 'bekannten Deutschen', so lautet die bekannteste Antwort noch immer Adolf Hitler, erläutert die Historikerin Catherine Moriarty vom Londoner "Imperial War Museum".

Das weiß auch der 83jährige Clemens Krysler, der 1933 über Belgien nach London emigrierte. Krysler unterscheidet zwischen Emigranten, die sich inzwischen assimiliert hätten und Exilanten, die ihre deutsche Identität bis heute nicht verleugnen: "Versucht nicht, Engländer zu werden. Das kann man nicht. Da muss man hier geboren sein", warnt der ehemalige Zahnarzt seine Mitstreiter. Doch dass er selbst ein Deutscher war, dazu mag er sich bis heute nicht bekennen. Seinen Nachbarn im Emigrantenviertel Golders Green macht er glauben, er stamme aus Belgien. Der "Club 43" aber bietet Krysler und der kleiner werdenden Zahl deutsch-jüdischer Emigranten in London eine Heimstatt: "Er schuf dauernde Bande der Freundschaft, er half seelische Wunden heilen, und er wird auch weiter versuchen, alle die zusammenzuhalten, die guten Willens sind."

Im Versammlungsraum am Belsize Square herrscht eine familiäre Atmosphäre. Eine der alten Damen hat ihre Schuhe ausgezogen. Heute Abend spricht die Wiener Historikerin Dorothea McEwan über "Aby Warburg and the Warburg Institute". Sie hat an der Stirnseite des Saales neben Hans Seelig Platz genommen. Der 65jährige gebürtige Deutsche leitet den "Club 43" seit zwei Jahren. Die Vorträge im Club - der sich heute als "Anglo-German Cultural Forum" versteht - werden in der Regel auf Englisch gehalten, denn schon die Kinder der Emigranten können oft kein Deutsch mehr verstehen.

Mrs. McEwan hat einen dicken Stoß Papier in der Hand. Blatt für Blatt liest sie ihre gesammelten Erkenntnisse über Aby Warburg und das nach ihm benannte Institut vor. Einigen der alten Herren fallen immer wieder die Augen zu. Nach einer halben Stunde machen sich bei den Teilnehmern erste Anzeichen von Unruhe bemerkbar. Einst rühmte der spanische Schriftsteller Salvadore Madriaga nach einem Besuch im "Club 43": "Das war ja wie das Seminar einer Universität." Heute abend ist es jedenfalls kaum aufregender. Mehr und mehr Teilnehmer lauschen der Referentin mit geschlossenen Augen. Nach 40 Minuten endlich spürbares Aufatmen, als sie die letzte Seite ihrer nicht enden wollenden Papiere auf den Tisch legt.

Ein reges Gespräch zwischen Teilnehmern und Referentin beginnt. Erst ale eine der alten Damen aus der letzten Reihe den Wasserkessel anstellt, beginnt sich erneut Unruhe im Raum auszubreiten. Münzen klimpern, das Teewasser kocht und man freut sich voller Ungeduld aufs Gebäck.

Zwei alte Damen haben diesen Teil des Abends vorbereitet. Die 86jährige Heddy Friedmann ist 1938 von Hamburg nach England emigriert. Ohne das Zusammengehörigkeitsgefühl und die aufrichtige Freundschaft seiner Mitglieder würde es den Club nach ihrer Auffassung längst nicht mehr geben. Der Club ist auch 50 Jahre nach Kriegsende noch immer eine Schicksalsgemeinschaft aus Deutschland vertriebener Juden. Heddy Friedmann hat, abgesehen von gelegentlichen Reisen nach Deutschland, keine Beziehung mehr zu ihrer alten Heimat. "Zurückgehen und dort leben würde ich niemals. Ich glaube, Sie würden dasselbe gesagt haben, wenn Sie rausgeschmissen worden wären", erklärt sie in bester Hamburger Mundart.

Ihre Freundin Anny Reich (83) stammt aus Österreich und lebt ebenfalls seit fast 60 Jahren in London. Auch sie wäre niemals auf die Idee gekommen, in ihre alte Heimat zurückzukehren: "Österreich ohne Bevölkerung ist ein wunderschönes Land. Aber mit Bevölkerung..." Die alte Frau beginnt leise zu lachen. Antisemitismus habe es immer und überall gegeben. Die Grenzen zwischen den von den Nazis politisch und 'rassisch' Verfolgten waren indes unscharf: "Es gab viele, die in beide Kategorien fielen. Es gab Politische, die aus Enttäuschung unpolitisch wurden, es gab Unpolitische, besonders unter der Jugend, die gerade durch die Ereignisse politisiert wurden", notierte der langjährige, 1975 verstorbene Club-Vorsitzende Hans Jaeger, einst Abteilungsleiter für Agitprop beim ZK der KPD und Leiter des Marx-Engels-Verlags in Berlin. Jaeger, der den Club in den Nachkriegsjahren am nachhaltigsten prägte, wurde nach seiner Trennung von den Kommunisten Mitglied der britischen Labour Party. Dieser Partei gehört auch der amtierende Club-Vorsitzende Hans Seelig an.

"Meine Mutter wollte Wasser haben zwischen Deutschland und der Familie", berichtet Seelig. Im März 1939 schickte sie den achtjährigen mit einem Kindertransport nach Schweden. Sein Vater, ein Geschäftsmann aus Ostpreußen, hielt sich bereits seit der "Kristallnacht" im Ausland auf. Zwei Wochen vor Kriegsausbruch traf der kleine Junge seine Eltern in der südenglischen Hafenstadt Brighton wieder. Familie Seelig erhielt die Erlaubnis, in England zu bleiben. Doch bereits wenig später wurde Seeligs Vater als "feindlicher Ausländer" auf der Isle of Man interniert. Mutter und Sohn mussten die in der militärischen Sperrzone ("protected area") befindliche Hafenstadt verlassen. Erst nach Kriegsende durfte die erneut vertriebene Familie an ihren Wohnort zurückkehren.

Seit 1947 ist Hans Seelig britischer Staatsbürger. Nach dem Militärdienst studierte er in Oxford Deutsch und Französisch, doch seine Leidenschaft war schon damals die Musik. Seelig arbeitete danach zunächst als Gymnasiallehrer und wechselte dann als Dozent an eine Hochschule, "bis unsere jetzige Regierung meine Arbeit fast unmöglich gemacht hat, so dass ich 75 Prozent meiner Zeit mit Verwaltungsarbeit und dem Kampf ums Geld verbrachte." Seelig, der sich aufs Komponieren und die Schriftstellerei verlegte, wurde es leid und ließ sich mit 58 Jahren pensionieren: "Seitdem habe ich ein Leben wie noch nie. Wahnsinnig interessant."

Doch Seelig ist nach wie vor von den schrecklichen Erlebnissen seiner Kindheit geprägt. Seit damals verfolgt ihn das entsetzliche Gefühl, von seiner Umwelt abgelehnt zu werden: "Abgelehnt von der Gesellschaft, abgelehnt von den Menschen, mit denen ich zusammen sein wollte." Die Angst, nicht akzeptiert zu werden, hat ihn am nachhaltigsten geprägt. Aus diesem Grunde auch veröffentlicht Seelig von ihm verfasste Artikel und Gedichte bis auf den heutigen Tag nicht unter seinem eigenen Namen. Noch stärker erlebt Seelig diese Angst beim Komponieren, seinem Privatesten: "Ab und zu gelingt mir eine Komposition. Wenn sie aufgeführt wird, müssen mindestens 300 Kilometer zwischen mir und der Auffährung sein - und unter meinem Namen geht es nicht." Im Moment arbeitet Seelig daran, ein jüdisch orientiertes Gedicht Arno Reinfranks zu vertonen. Vielleicht, meint Seelig, das erste Werk, das er unter seinem eigenen Namen aufführen lassen wird.

"Heute muss ich sagen, ich bin nicht religiös." Seelig ist zweiter Vorsteher einer kleinen Synagoge in seiner Heimatstadt Hemel Hempstead, nördlich von London. Alles akzeptieren mag er nicht, doch das wenige ist wichtig für ihn: "Vielleicht kann man mich in einem gewissen Sinne einen positiven Agnostiker nennen." Er sieht sich selber im besten Sinne des Wortes als Sozialdemokrat, dem es um Liberalität und ökonomische Gerechtigkeit geht. "Ich kann nicht sagen, auf welchem Flügel der Labour Party ich bin. Ich tendiere mal in diese, mal in die andere Richtung. Kann man, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, gemäßigt sein? Nennen wir es also den vorsichtigen Flügel." Seelig ist einer, der immer seine Unabhängigkeit zeigen und nie dogmatisch sein will. Das bringt ihn durchaus auch in Opposition zur Mehrzahl seiner Parteifreunde: "Ich sehe nie gern, wenn zuviel in die Hände des Staates kommt. Ich bin und bleibe gewissermaßen ein Liberal-Sozialist, sehr für den Individualismus."

Seit dem Tod seiner Vorgängerin Berta Sterly im Sommer 1993 leitet Hans Seelig den "Club 43". Schon Berta Sterly wollte die Vereinigung immer wieder schließen. Davon aber hält Seelig nichts: "Wir brauchen noch immer einen solchen Club, der sich mit der deutsch-jüdischen Tradition beschäftigt. Es sind noch genug Leute da, die diese Kultur schätzen und weiterführen wollen. Wir waren ein sehr wichtiges Teil der deutschen Kultur."

Seelig hat niemals in einer geschlossen deutsch-jüdischen Gesellschaft gelebt, sondern war schon in Brighton stets unter Engländern. Er hat sich mehr als die meisten anderen Mitglieder des "Club 43" in Großbritannien assimiliert und denkt heute über die Grenzen seines Landes hinaus. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es diesen einzigartigen Club noch gibt: "Der Club hat die Aufgabe, den deutsch-jüdischen Beitrag zur europäischen Kultur so lange wie möglich weiterzuführen und vielleicht auch einzupflanzen bei den Nachkommen dieser Emigranten." Eines Tages aber, das gibt er ganz unumwunden zu, wird auch der "Club 43" nicht mehr sein.

"Wir sind alt geworden und müssen zusehen, wie wir aussterben. Wir haben keine Absichten, keine Ziele. Aber wir sind ein Beweis für die Lebenskraft der Überlebenden, für die Fruchtbarkeit früherer Eindrücke, für die Heilkraft des freien Gedankens", schrieb Grete Fischer vor mehr als 20 Jahren in das Stammbuch des Clubs. "Die Karawane zieht weiter: Auch wenn die Straße staubig sein mag, der Marsch müder und schleppender, aber die Sterne leuchten wie zuvor." Das Bild gilt nach wie vor. Bald wird die Karawane vorübergezogen sein. Wer mit ihr zog, fühlte sich geborgen. Dort, wo sie vorüberzog, hinterließ sie Spuren.

Dieser Beitrag wurde am 23. April 1995 im "Tagesspiegel" (Berlin) veröffentlicht. Hans Seelig (80) ist noch immer der Leiter des "Club 43".

Skulptur auf dem Liberal Jewish Cemetry London

Club 43Clemens KryslerHeddy FriedmannGrabsteinHans SeeligClub 43

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