Stefan Appelius


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Die Spur führt nach Lissabon

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Die Spur führt nach Lissabon

Von Stefan Appelius

Das Nazi-Regime hat auch in der Berliner Geschichte viele "weiße Flecken" hinterlassen: Ganze Familien wurden ausgerottet oder aus dem Land gejagt. Die Folge war unausweichlich: Das Lebenswerk vieler "kleiner Leute" und die Erinnerung an bedeutende deutsch-jüdische Persönlichkeiten geriet in Vergessenheit. So erging es auch Wilhelm Friedländer aus Berlin-Charlottenburg, der in den 20er Jahren als Sozialpolitiker in der Reichshauptstadt hohes Ansehen genoß. Im Berliner Landesarchiv befinden sich nach Auskunft eines Mitarbeiters "trotz intensiver Recherchen" keinerlei Unterlagen über Stadtrat Wilhelm Friedländer, der am 15. April 1870 in Oranienburg geboren wurde. Jetzt gelang es, seine Hinterlassenschaft in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon zu retten: 15 Mappen mit Briefen, Dokumenten und Fotos. Dieser Nachlaß bildet einen wichtigen Mosaikstein bei dem Versuch, die Geschichte der deutsch-jüdischen Kultur in Berlin zu rekonstruieren.

Die Friedländers waren Sozialdemokraten und gehörten zum "Urgestein" dieser Partei in Berlin, berichtet Peter Schwerin (63), der den Sommer in seiner Wohnung im portugiesischen Badeort Cascais, unweit von Lissabon verbringt. Der braungebrannte Mann ist ein gebürtiger Berliner, aufgewachsen in Portugal. Seine Großmutter, Regina Friedländer, war eine Mitbegründerin des "Bund Deutscher Frauen". Sie kämpfte einst für das Frauenstimmrecht und war eine enge Freundin von Rosa Luxemburg. Kennengelernt hat er sie allerdings nicht mehr: Regina Friedländer ist schon im Oktober 1918, lange vor seiner Geburt, gestorben. "An Unterernährung", erzählt Schwerin, und fügt hinzu: "Sie wollte genauso leben wie die Arbeiter und lehnte eine bessere Verpflegung ab."

Sein Großvater, Willy Friedländer, blieb mit drei kleinen Kindern zurück. Er war ein Politiker mit Leib und Seele, erzählt Peter Schwerin. Bereits am 19. Dezember 1921 wurde Friedländer von der Bezirksversammlung des Verwaltungsbezirks Mitte der Stadtgemeinde Berlin zum unbesoldeten Stadtrat gewählt. Zunächst war er für Kriegsopfer und später für Gesundheitsfragen zuständig, erzählt Peter Schwerin. Doch dann kamen die Nationalsozialisten. Die Familie stand vor einem Scherbenhaufen.

Willy Friedländer sah sich um seine Ideale gebracht. Er hatte 1920 noch einmal geheiratet und wollte mit seiner Frau Elsa noch ein paar schöne Jahre verbringen. Ein Foto, aufgenommen Weihnachten 1934, zeigt ihn unter dem Christbaum, im Lehnstuhl sitzend mit einer Holzfigur im Arm. Ein freundlicher, älterer Mann im dunklen Anzug, mit einem Lächeln auf den Lippen. Liebevoll schmiegt er die Figur, fast wie ein Kind, in den Armen. Die Momentaufnahme einer Familienidylle.

Doch der Frieden war trügerisch. Zuerst verließen seine Kinder das Land. Sie hatten erkannt, dass es in Deutschland keine Zukunft für sie gab. Doch wo sollten sie sich eine neue Existenz aufbauen? Damals herrschte in vielen Ländern Arbeitslosigkeit. Einwanderer waren fast nirgends erwünscht. Überall galten Arbeitsverbote für Emigranten. Und wer Deutschland verlassen wollte, wurde mit der Zahlung einer "Reichsfluchtsteuer" zur Kasse gebeten...

Heute ist die Familie von Peter Schwerin in alle Welt verstreut: Seinen Onkel Klaus verschlug es nach gescheiterten Neuanfängen in Australien und England schließlich nach Kanada, seine Tante Hedda landete auf dem Umweg über Asien in Neuseeland. Der väterliche Teil seiner Familie rettete sich damals nach Palästina. Ihre deutschen Namen haben sie - mit Ausnahme von Peter Schwerin - alle abgelegt, Deutsch spricht niemand mehr von ihnen. Auch nicht sein Cousin Tom Segev, der als Schriftsteller in Jerusalem lebt und in Deutschland hohe Anerkennung genießt.

Die Eltern von Peter Schwerin gingen 1936 nach Lissabon. Nach Portugal verschlug es damals nur wenige deutsch-jüdische Emigranten. Das Land wurde von Ministerpräsident Salazar autoritär regiert, die Opposition von der gefürchteten Geheimpolizei PIDE brutal unterdrückt. Der Nationalökonom Dr. Curt Schwerin, seine Ehefrau Thea Friedländer und ihr kleiner Sohn waren den Nazis entkommen; wirtschaftlich aber standen sie buchstäblich vor dem Nichts. Und doch war es ein Glück für die Familie, schon jetzt ins Land gekommen zu sein. Anders, als die vielen Hitler-Flüchtlinge, die 1940/41 nach Portugal kamen, erhielten sie eine Aufenthaltsgenehmigung und waren fortan im Lande geduldet.

Mehr schlecht als recht gelang es Familie Schwerin, in Lissabon Fuß zu fassen. Curt Schwerin versuchte sich als selbständiger Geschäftsmann und importierte Spielzeug aus Österreich. Doch der Kriegsbeginn beendete das Unternehmen. Den Lebensunterhalt der Familie musste daraufhin seine Frau Thea verdienen, die eine Anstellung in einer Schiffsagentur fand. Diese Firma war darauf spezialisiert, jüdische Flüchtlinge aus Europa herauszubringen, berichtet Peter Schwerin. Nach der Reichspogromnacht wußten auch Willy Friedländer und seine Frau Elsa, dass sie Deutschland so schnell wie möglich verlassen mussten. Nachdem ihnen der Bezirksbürgermeister von Wilmersdorf eine "Unbedenklichkeitsbescheinigung" ausgestellt hatte, erhielten sie den begehrten Reisepaß.

Am 2. Juni 1939 traf das Ehepaar mit dem Schiff in Lissabon ein. Einige Monate später vollendete Willy Friedländer das 70. Lebensjahr. In einem Brief an seinen Sohn Klaus vom 9. Mai 1940 heißt es: "Die Zeit bis zum großen Krieg war keine schlechte. Dann hat der Idiot, der Wilhelm II, der uns glücklichen Zeiten entgegenführen wollte, das Unglück über die Welt gebracht; denn all unser jetziges Unheil stammt von daher. (...) Ich möchte noch den Zusammenbruch des Verbrecherpacks in Deutschland erleben. Ich freue mich über jeden Schlag, den die deutschen Gangster bekommen und ärgere mich über jeden Verlust, den die Alliance erleidet, weil ich weiß, dass alles, aber alles viel billiger zu haben war."

Am Ersten Weltkrieg hatte Willy Friedländer als "Landsturm-Mann" im Gefangenenlager Salzwedel teilgenommen: "Wenn jemand über 70 Jahre alt geworden ist, sollte er sich nur seines Lebens freuen, denn die Tage, die er lebt, sind ihm geschenkt. Und wenn es auch im Kriege ist. Noch dazu wo ich als alter Heldengreis die Geschichte schon einmal mitgemacht habe und weiß, dass man aus den schlechtesten Situationen das beste herausziehen muss, wenn man weit vom Schuss ist. Aber was heißt heute weit vom Schuss?! Morgen können wir alle drin stecken und Portugal kann, wenn Du diesen Brief erhältst auch von Herrn Hitler in das allgemeine Schlamassel mit hineingezogen sein."

Viele Flüchtlinge fürchteten damals, dass Deutschland die iberische Halbinsel besetzen werde. Willy Friedländer glaubte das nicht. Er war fest davon überzeugt, dass die Alliierten den Krieg gegen Deutschland gewinnen würden. Im Radio hörte er regelmäßig die Sendungen von BBC London: "Die Überlegenheit Englands zur See steht fest, die zur Luft ist nur eine Frage von Monaten und dann hoffe ich, dass meine lieben Berliner Großschnauzen etwas kleiner werden. Aber ansonsten bin ich der Ansicht, dass der Krieg noch sehr lange dauern wird, viel zu lange für die Menschheit und vor allem für Europa, dessen Kultur, oder was man so nennt, in die Brüche geht!"

Mit Politik aber will Friedländer nichts mehr zu tun haben: "Es gibt immer noch so kluge Leute, die aus ihren Fehlern nichts lernen und dieselben Dummheiten wiederholen. Es ist zum Hundejammern, wenn man die dadurch entstandenen Verluste an Menschenleben betrachtet." Die Kontakte zu seinen alten Freunden sind abgerissen, von seinem Freund Paul Hertz, dem späteren Berliner Wirtschaftssenator, der sich nach Los Angeles gerettet hatte, hörte er selbst an seinem 70. Geburtstag nichts: "Die Emigration macht die Menschen zu Egoisten und der Deut für den Lebensunterhalt steht den Menschen näher, als der für das Briefporto."

Blende: Wir befinden uns auf der Terrasse einer Penthouse-Wohnung im Zentrum der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. Überall stehen Pflanzen, weit hinten ist eine Satellitenschüssel zu sehen. Unten auf der Straße lärmt der Verkehr, über unseren Köpfen setzt ein Jumbo zur Landung auf den benachbarten Flughafen an. Auf der Hollywood-Schaukel sitzt eine alte, zerbrechliche Dame. Sie trägt ein Tuch um den Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen. Wir begegnen Willy Friedländers Tochter Thea. Sie ist jetzt 86 Jahre alt, die letzte Überlebende jener dramatischen Ereignisse. Von ihrem Mann Curt hat sie sich schon vor vielen Jahren getrennt. Er ist 1988 in Paris gestorben.

Thea Friedländer hat noch einmal geheiratet, jetzt ist sie Schweizer Staatsbürgerin. "Es waren nicht die Nazis, es war die Mehrzahl", sagt sie, wenn sie an jene düsteren Jahre in Berlin zurückdenkt. Trotzdem ist sie nach Kriegsende zu Besuch in der Bundesrepublik gewesen. Zuletzt vor drei Jahren. Doch seit der Wiedervereinigung hat sich Deutschland verändert, glaubt sie. Als sie in einem Lokal in Ostdeutschland absichtlich portugiesisch sprach, tuschelte das Personal, man habe es offensichtlich mit einer "Polakin" zu tun. Das war eine schmerzliche Erfahrung für die alte Dame. Immer wieder hat sie im Fernsehen von rechtsextremistischen Ausschreitungen und von Gewaltverbrechen in Deutschland gehört.

Diese Dinge machen ihr Angst, wecken schreckliche Erinnerungen. "Jetzt habe ich genug von den lieben Deutschen"m sagt sie, und fügt energisch hinzu: "Ich komme nicht mehr nach Deutschland."

Nachsatz: Willy Friedländer hat das Kriegsende nicht mehr erlebt. Er erkrankte unheilbar an Magenkrebs und starb am 22. Juli 1941 in Lissabon. Seine Frau Elsa (67) nahm sich wenige Tage später das Leben. Sie ging aus dem Haus und kehrte nicht mehr zurück: "Zum Verdienen bin ich nicht mehr stark genug und ja auch der Sprache unkundig. Ich bin nicht geisteskrank, auch sind meine Nerven nicht mehr herunter als bei den meisten in solcher Situation. Aber Leben ohne Hoffnung und sonstigen Lebenssinn, nur den Kindern hier auf der Tasche zu liegen, will ich nicht", heißt es in ihrem Abschiedsbrief. Elsa Friedländer ging in den Tejo. Ihre Leiche wurde niemals angespült.

Dieser Beitrag wurde am 27. Dezember 1998 im "Tagesspiegel" (Berlin) veröffentlicht.

Willy Friedländer

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